2024 ist zu Ende. Und mittendrin wir – die Lesenden, mit dem leisen Wunsch, mithilfe der Lektüre dem Alltagsgaga zu entfliehen. Ins All vielleicht, weit weg von Krach, Kanonfragen und Kalkül.
Warum lesen wir? Na, weil Lesen bildet, klug macht und – das weiß auch Denis Scheck bestens: „Lesen macht schön, schlank und sexy.“
Der Hauptgrund für gepflegte Lektüren bleibt aber doch: Realitätsflucht.
Und in dieser kruden Welt – in der Realität des Jahres 2024 – nach D-Day-Papieren, Kriegen, Vertrauensfragen und Präsidentschaftswahlen dachte doch jeder ab und an:
Na, wenn schon die Booker-Prize-Gewinnerin fluchen möchte ... Samantha Harveys preisgekrönter Roman „Umlaufbahnen“ katapultierte uns in diesem Jahr in intergalaktische Höhen. Eskapismus at its best! Sechs Astronauten auf der ISS, schwebende Existenzen auf der Suche nach Sinn, die Erde dreht sich unaufhörlich weiter.
Ein bisschen Bradbury, ein Hauch Sartre – die Hölle, das sind eben die anderen. Das weiß auch Clemens Meyer.
Der Deutsche Dramapreis
Wir erinnern uns: der Deutsche Buchpreis. Leer ausgegangen ist Meyer für seinen Roman „Die Projektoren“. „Verdammte Wichser!“ soll der Leipziger bei der Verleihung im Frankfurter Römer geschimpft haben. Gut, dass er im anschließenden Spiegel-Interview entspannter nachlegen konnte. Buchpreis-Geld? Dringend gebraucht – für Steuernachzahlungen und die Scheidung. Ganz schön abgehoben! Also, die Himmelskörper natürlich. Aber worum geht es in Meyers Roman eigentlich?
Im Mittelpunkt: Juno und Jupiter. Juno beginnt eine virtuelle Beziehung mit einem nigerianischen Love-Scammer – Moment, hoppla! Das war ja der andere Roman, der, der wirklich gewonnen hat: Martina Hefters „Hey, guten Morgen, wie geht es dir?“. Ja, die richtige Gewinnerin Martina Hefter – etwas in den Hintergrund gerückt durch das Meyer’sche Drama.
Gekränkte Egos und ehrgeizige Nachwuchsautorinnen
Ach, diese gekränkten Egos – ein bisschen wie Raumkapseln ohne Funkkontakt: abgekoppelt, schwebend und weit weg von Bodenständigkeit. Apropos Schimpfen: In den Printmedien zu zetern ist ja auch out. Es ist fast 2025! Heute macht man das auf Instagram. Caroline Wahl weiß das.
Die Jungautorin katapultierte sich in diesem Jahr an die Spitze der Bestsellerlisten – schon wieder.
Nach dem Erfolg ihres Debüts „22 Bahnen“ nahm Wahl der Buchpreis-Jury übel, dass es ihr Zweitling „Windstärke 17“ nicht einmal auf die Longlist schaffte. Der wütende Post geisterte durch die Insta-Literaturbubble. Gleich mit einem Kummer-Gegenrezept, sie schrieb: „auf jeden fall habe ich gehofft draufzustehen und tat weh, als kein anruf kam. dann bin ich windsurfen gegangen, hab auf dem wasser haftbefehl gesungen“.
Und doch: Ganz ohne Printmedien geht’s nicht – für die Welt verabredete Wahl sich zum Porschekauf mit Frédéric Schwilden. Die beiden zog es dann aber ins KaDeWe, wo sie Champagner-trinkend Caroline Wahls Status als Dauer-Bestsellerautorin zelebrierten.
Angela Merkel knackte Sachbuchrekorde
Und noch eine Nachwuchsautorin knackte Rekorde: Altkanzlerin Angela Merkel. „Freiheit“, ihr Kanzlerschafts-Memoir, ging eine Woche nach Verkaufsstart 200.000 Mal über die Ladentheke. Viel Würdigung, wenig Kritik. Verlag Kiepenheuer & Witsch sagt wohl einfach nur: Danke, Merkel!
Ja, ein „Cruel Summer“ – der stand ganz im Zeichen von Taylor Swift. Nichts entzieht sich ihrer Gravitation. Als Literatursuperstar füllt man keine Stadien im Swift-Stil – leider nicht einmal mit einem Literaturnobelpreis.
Der Literaturnobelpreis ging nach Südkorea
Erstmals Preisträgerin aus Südkorea Literaturnobelpreis 2024: Han Kang erhält renommierten Literaturpreis
Der Literaturnobelpreis gilt als der wichtigste Literaturpreis der Welt. Die Schwedische Akademie in Stockholm hat nun die Preisträgerin 2024 verkündet: die Südkoreanerin Han Kang.
Han Kang – bekannt vor allem für „Die Vegetarierin“. Kein Familienstreit bei der Weihnachtsgans, sondern ein Roman über die südkoreanische Gesellschaft. Eine Frau verweigert das Fleischessen und verwandelt sich in eine Pflanze. Eine Metamorphose! Nicht zu verwechseln mit einem anderen Vegetarier der Weltliteratur mit Faible für Verwandlungen, dessen 100. Todestag 2024 begangen wurde.
Kafka Jahr. Kafka war überall: ARD-Serien, Dokus, Theater. Der Kafka-Kosmos lädt auch ein Jahrhundert nach seinem Tod zum Staunen über Bürokratie, Käfer und Folterwerkzeuge ein. Brrrr, der Horror!
Den gab’s auch auf der Leipziger Buchmesse, wenn auch als „Mini-Horror“. In Barbi Markovićs Kurzgeschichten erleben Mini und Miki Beziehungs- und Familienhorror. Aber Krisen gab’s auch sonst genug auf diesem Planeten: Krieg, Antisemitismus, Klimakrise. Das Klima in der Kulturszene? 2024 glich es einer Supernova.
Ein bisschen mehr Science Fiction für 2025
10 % des Haushalts will der Berliner Senat einsparen. Die Kulturmenschen demonstrierten – und man fragt sich in diesen Zeiten: Braucht es vielleicht ein bisschen mehr Science-Fiction? Nicht nur metaphorisch, sondern so richtig. Wenn wir schon in Umlaufbahnen kreisen, könnten wir auch weiterfliegen – zum Planet Utopia, auf dem Buchhandlungen nie schließen und nichts gestrichen wird.
Mit diesem Traum: Adieu, Literaturjahr 2024!
Vielleicht bleibt uns fürs nächste Jahr nur ein Wunsch: die Füße auf der Erde behalten, während der Kopf weiter kreist. In welcher Umlaufbahn? Egal.
Mehr zu den Büchern des Literaturjahres 2024
Buchkritik Caroline Wahl – 22 Bahnen
Die ersten Freibäder im Südwesten haben bereits geöffnet, jetzt fehlt nur noch das passende Wetter. Anders geht es da Tilda und ihrer kleinen Schwester Ida, den beiden Hauptfiguren in dem Roman „22 Bahnen“: Besonders Ida liebt es, bei Nieselwetter im Freibad tauchen zu gehen. Es ist für sie eine kleine Flucht aus dem Alltag, in dem das Familienleben geprägt ist von der Alkoholsucht ihrer Mutter. Ihre große Schwester Tilda schlüpft immer mehr in die Mutter-Rolle und versucht nicht unterzugehen: Als Studentin, kurz vor ihrem Abschluss, als große Schwester mit viel Verantwortung und als junge Frau, die sich nach einem Leben jenseits der Pflichten und der öden Kleinstadt sehnt.
„22 Bahnen“ ist der Debütroman von Caroline Wahl, die in Mainz geboren und in der Nähe von Heidelberg aufgewachsen ist. Ein Debüt, das richtig begeistert, findet unsere Rezensentin Kristine Harthauer.
Dumont Verlag, 208 Seiten, 22 Euro
ISBN 978-3-8321-8278-6
Gespräch Han Kang - Weiß
Im 2020 erschienenen Buch der Erfolgsautorin und seit Oktober 2024 Literaturnobelpreisträgerin Han Kang ist alles „Weiß“. Die reine Farbe Weiß ist in Korea die Farbe der Trauer. In zahlreichen sehr persönlichen Episoden denkt Han Kang über ihre älteste Schwester nach, die bereits als Baby starb.
Mehr Kulturereignisse aus 2024
Kulturmoment des Jahres 2024 Opernperformance „Sancta“: Feier der Toleranz und des Miteinanders
Die mediale Debatte um die Opernperformance „Sancta“ an der Staatsoper Stuttgart, verstellt den Blick auf das beeindruckendste Erlebnis des Jahres 2024, findet Eva Marburg.
Gespräch Bauern, Eisenbahner, Klimakleber – Wie wirkt Protest?
Die Bauern blockieren, die Lokführer streiken – Damit Protest wirkt, muss er stören, derzeit beeinträchtigt sind vor allem Menschen im Straßenverkehr. Protest drückt Unzufriedenheit aus und fordert Neues und kann im besten Fall Veränderungen einleiten. Der Journalist Friedemann Karig hat darüber Buch „Was ihr wollt – wie Protest wirklich wirkt“ geschrieben, das im März erscheint.
lesenswert Feature Kafka-Kult – Das erstaunliche Nachleben des Franz K.
Kafka ist ein TikTok-Star mit über einer Milliarde Klicks, sein melancholisches Portrait prangt auf T-Shirts, Kaffeetassen und Krawatten. Kafkas Werk wird mittlerweile auf der ganzen Welt adaptiert, in allen Künsten. Nur wenige Autoren besitzen eine solche internationale Wirkung wie er.