„Ehefrauen für die Kolonie“ forderte 1720 der Gouverneur von Französisch-Louisiana an. Wie es den jungen Frauen in der neuen Welt erging, darüber hat Julia Malye einen packenden Roman geschrieben.
„Man sagt Frauen nicht alles“, schreibt Julia Malye auf der ersten Seite ihres Romans. Die Frauen, die im Jahr 1721 Französisch-Louisiana erreichten, hatten tatsächlich keine Ahnung, wie ihr neues Leben aussehen würde.
Sie hatten auch nicht selbst entschieden, die beschwerliche Reise über den Ozean anzutreten. Der Gouverneur von La Louisiane hatte Ehefrauen für die Kolonie angefordert, möglichst robust und gebärfähig.
La Louisiane bedeutete Ungewissheit und Hoffnung
Die Frauen, die man ausgewählt hatte, hatten nichts zu verlieren. Ihr Zuhause war die Pariser Salpêtrière gewesen, eine Anstalt für von der Gesellschaft ausgeschlossene Frauen: Psychisch Kranke, Kriminelle, Unkeusche, aber auch Waisenkinder und mittellose Frauen. La Louisiane bedeutete Ungewissheit, aber auch Hoffnung. Eine Chance.
Autorin Geneviève ist eine der Frauenfiguren, die Julia Malye erschaffen und zu den Heldinnen ihres Romans gemacht hat. Die junge Geneviève stammt aus der Provence, aus einer verarmten Familie. Nach dem Tod ihrer Eltern hat sie sich in Paris allein durchgeschlagen.
Sie ist schwanger geworden, hat abgetrieben, hat anderen Frauen bei der Abtreibung geholfen. Deshalb ist sie in der Salpêtrière gelandet. Während der monatelangen Schiffsreise nach La Louisiane freundet sich Geneviève mit Pétronille, Étiennette und Charlotte an.
Die rothaarige Charlotte ist die Jüngste – ein Waisenmädchen, das in ihrem Leben nichts anderes gesehen hat als die Salpêtrière. Bevor ihre neue Existenz als Siedler-Frauen in der Kolonie beginnt, überlebt die Gruppe einen Piraten-Überfall und das in La Louisiane grassierende Gelbfieber. Innerhalb kürzester Zeit sind dann alle unter der Haube.
Ein Leben an der Seite fremder Ehemänner
Die 30-jährige Julia Malye erzählt mit großer schriftstellerischer Reife vom Leben der Frauen an der Seite ihrer zunächst völlig fremden Ehemänner. Sie denkt und fühlt sich tief in ihre Figuren ein. Geneviève, Pétronille, Étiennette und Charlotte machen ganz unterschiedliche Erfahrungen.
Sie müssen mit Schicksalsschlägen umgehen. Ehemänner sterben, eine von ihnen kann keine Kinder bekommen. Die Frauen lernen, reifen, wachsen hinein in ihr Leben in der neuen Welt.
Obwohl sie in einem patriarchalischen System den Männern untergeordnet sind, entwickeln sie eigenständige, starke Persönlichkeiten, die uns die Autorin auf faszinierende, sensible Weise nahebringt. Die Männer, ob sie nun friedfertig oder brutal sind, bleiben in dem Roman stets im Hintergrund. In La Louisiane tragen die Kapitel Frauen-Namen.
Aufstand des Natchez-Volkes gegen die französische Kolonialherrschaft
Autorin Julia Malye hat reale historische Ereignisse in ihren Roman eingeflochten, wie den Aufstand des indigenen Natchez-Volkes gegen die französische Kolonialherrschaft. Dafür hat die Autorin auch Quellen der Natchez konsultiert.
Bei ihrem Angriff im Jahr 1729 zerstörten die Kämpfer der Natchez die Siedlung Fort Rosalie, töteten Frauen, Männer und Kinder oder nahmen sie gefangen. Die Romanfigur Pétronille, die sich dank der Hilfe einer jungen Indigenen retten kann, lebt fortan mit dem Trauma des Verlusts.
Ihre Nachbarin und Freundin Marie aus der Siedlung, ihr Ehemann und die Frau vom Volk der Natchez, die ihr geholfen hat – Pétronille weiß nicht, was aus ihnen geworden ist, und leidet darunter. La Louisiane handelt also auch von Menschlichkeit in einer Zeit, die von Unterwerfung, Sklaverei und Krieg geprägt war.
Und es ist ein Buch über unbedingte Freundschaft und Solidarität. Trotz der großen Entfernungen reißen die Bande zwischen Geneviève, Pétronille und Charlotte nicht ab. Kunstvoll verwebt Julia Malye ihre Lebensgeschichten miteinander – und imaginiert am Ende eine Liebe ohne Männer:
Roman über weibliche Selbstermächtigung
Während fast eines Jahrzehnts hat Julia Malye umfassend und akribisch für La Louisiane recherchiert, unzählige Werke und Expert:innen konsultiert und die Archive von New Orleans – also Neu-Orleans – durchforstet. Vor dem französischen Buchtext verfasste sie eine Version auf Englisch.
La Louisiane ist ein unterhaltsam und lebendig geschriebener Roman, der uns ein bisher kaum bekanntes Kapitel französischer Kolonialgeschichte intensiv und authentisch erleben lässt. Zugleich ist La Louisiane ein Buch über weibliche Selbstermächtigung, über Frauen, die auf subtile Weise von Objekten zu Subjekten werden und ihr Schicksal schließlich selbst in die Hand nehmen.
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