Buchkritik

Walter Moers (Hg.) – Edward Gorey. Großmeister des Kuriosen

Stand
Autor/in
Max Bauer

Mit „Käpt´n Blaubär“ und dem „kleinen Arschloch“ ist der Zeichner und Autor Walter Moers berühmt geworden. In seinem neuesten Buch stellt er einen anderen Zeichner vor, den „Großmeister des Kuriosen“ Edward Gorey.

Schon mit 28 Jahren schrieb und zeichnete Edward Gorey sein erstes Buch mit dem Titel „Eine Harfe ohne Saiten“. Es ist das Buch, das Walter Moers immer noch für das beste von Gorey hält. Jahrelang hing eine Zeichnung daraus über dem Schreibtisch von Walter Moers.

Gleich zu Beginn von „Eine Harfe ohne Saiten“ entsteht mit wenigen feinen Strichen eine andere Welt, ein Gefühl des Anderswo: Ein paar karge Büsche, eine Stein-Balustrade, die sich im Nichts verliert, ein kahlköpfiger Gentleman mit großen besorgten Augen, gekleidet in einen dicken Pelzmantel mit schlanken Hosen und spitzen Schuhen. Den Krocket-Schläger in der Hand scheint er nicht ganz bei der Sache.

Mr. Clavius Frederick Earbrass ist, wie man weiß, ein namenhafter Romancier. Von seinen Büchern werden wahrscheinlich „Ein moralischer Mülleimer“, „Wenn die Ketten klirren“ und die „Bis zur Hüfte-Trilogie“ am meisten geschätzt. Wir sehen Mr. Earbrass auf dem Krocket-Rasen seines Herrenhauses Hobbies Odd in der Nähe von Collapsed Pudding in Mortshire. Er meditiert über einen Spielzug einer Partie, die er Ende des Sommers abgebrochen hatte.

Der viktorianische Gentleman Clavius Frederick Earbrass ist ein Bestseller-Autor. Sein Blick in die Welt ist mal besorgt, mal erschrocken. Und am meisten Unbehagen bereitet ihm seine eigene Kunst.

Die große Kunst und der kleine Keks

Am 18. November jedes zweiten Jahres beginnt Mr. Earbrass mit der Niederschrift seines neuen Romans. Den Titel hat er bereits Wochen zuvor willkürlich einer Liste entnommen, die er in einem kleinen grünen Notizbuch führt. Es ist zur Teestunde am 17. November, als er sich Sorgen zu machen beginnt, dass ihm immer noch kein brauchbarer Plot eingefallen ist, der zu „Eine Harfe ohne Saiten“ passen könnte. Doch seine Gedanken kehren immer wieder zurück zu dem letzten Keks auf der Servierplatte.

Die große Kunst und der kleine Keks. So ernst der Autor Mr. Earbrass Leben und Schreiben nimmt, so staubtrocken ist der Humor, mit dem Edward Gorey von diesem Künstler-Leben erzählt.

Noch qualvoller als die ersten Kapitel des Romans sind die letzten für Mr. Earbrass. Seiner Figuren ist er nun ein für alle Mal überdrüssig geworden. Seine Verben kommen ihm verwelkt vor, und die Adjektive haben sich völlig unkontrolliert vermehrt. Außerdem leidet er in diesem Stadium zwangsläufig an Schlaflosigkeit. Nicht einmal die wiederholte Lektüre seines ersten Romans „Die Trüffelplantage“ bringt den ersehnten Schlaf.

Der verzweifelte Autor wandert durch die dunklen Flure seines riesigen Anwesens. Und auch als alles geschafft ist, ist er nirgendwo angekommen, steht weiterhin neben sich und nicht mit beiden Beinen in der Welt.

Mr. Earbrass steht in der Dämmerung auf seiner Terrasse. Es ist trostlos und kalt, und die Unschuld ist aus allem gewichen. Worte driften zusammenhanglos durch sein Hirn: Pein, Rüben, Partys, keine Partys, Enttäuschung, Krallen, Schwund, Serviette, Fieber, Antipoden, Gletscher, Gezeiten, Betrug, Trauer, Anderswo.

Auch der Autor und Zeichner Walter Moers, der Edward Gorey mit diesem wunderbaren Jubiläumsband würdigt, kennt das Anderswo. In seinem letzten Schuljahr schwänzte Walter Moers regelmäßig den Unterricht. Weil ihm die Schule nichts mehr beibrachte, las er sich stundenlang durch die Stadtbibliothek. Nicht in der Schule, sondern anderswo entdeckte er die Werke von Edward Gorey.

Ein Edward Gorey-ABC

In das Gorey-Universum entführt uns Walter Moers mit seiner über 400-seitigen Hommage. Doch sein Buch enthält nicht nur berühmte Gorey-Stories. In einem Edward Gorey-ABC erfahren wir, warum Gorey in seinen New Yorker Jahren fast jeden Abend das New York City Ballett besuchte und mit welcher Genialität er als Illustrator eines New Yorker Verlags zahlreiche Buchcover gestaltete.

Reproduktion dieser Cover finden sich in dem von Walter Mores präzise recherchierten und aufwendig gestalteten Band ebenso, wie Fotos von dem verwunschenen alten Kapitänshaus auf Cape Cod, das Edward Gorey in seinen letzten Lebensjahren bewohnte. Viele Details aus dem kuriosen Leben von Edward Gorey erfährt man.

Zum Beispiel, dass der Zeichner zur Entspannung Stoffpuppen nähte, die natürlich genauso geheimnisvoll wurden, wie die Fantasiewesen seines gezeichneten Werks. Der düstere Nonsense von Edward Gorey wird auch als „goreyesk“ bezeichnet. Und ähnlich wie bei dem „kafkaesken Kafka“ neigen Gorey-Leser bisweilen dazu, sich im Unheimlichen und Unerklärlichen des feinen Zeichenstrichs und der viktorianischen Fantasiewelten zu verlieren.

Kluge Verknüpfung von Leben und Werk

Walter Moers bürstet diese Lesart gegen den Strich. Er habe Goreys Zeichnungen in der Regel nicht als düster, sondern als „heimelig und warm“ empfunden, sagt Walter Moers und meint damit die Liebe Goreys zu seiner Zeichenkunst und seinen schrägen Humor.

An der Tür klingelts Sturm in windiger Nacht, | doch niemand ist da, als auf man sie macht.

„Der Mensch Edward Gorey war kein Rätsel, aber sein Werk wimmelt von Rätseln.“ Schreibt Walter Moers. Mit leichter Hand und ohne irgendetwas überzuinterpretieren, verknüpft er das exzentrische Leben des meist in Pelzmantel, Jeans und weißen Canvas-Tennisschuhen gekleideten Edward Gorey und ein Werk, das nach Goreys eigenen Worten von Dingen handelt, die so wenig Sinn machen wie möglich.

Fantasievoller Nonsense und fein skizzierte Albträume

Allein auf einer Urne stand und stierte | ein Gast, der alle irritierte.

Die kurze Story „Der zweifelhafte Gast“ trifft genau diesen Punkt zwischen Leben und Kunst. Sie handelt von einem Wesen, das wie ein Pinguin aussieht, und einen langen gestreiften Schal und weiße Canvas-Tennisschuhe trägt. Ganz wie die, die Edward Gorey selbst bevorzugte. In stürmischer Nacht taucht dieser Gast in einem alten Herrenhaus auf und bringt das geordnete Leben der Bewohner durcheinander.

Er kam auch zum Frühstück und aß unverzüglich | ganz viel Sirup und Toast und den Teller vergnüglich.

Der zweifelhafte Gast versteckt Handtücher, blickt stundenlang den Kaminschacht empor oder versenkt Wertgegenstände im Gartenteich. Die Geschichte endet schließlich mit einem Satz, der auch auf das Werk von Edward Gorey zutrifft.

Seit siebzehn Jahr´n will er nicht scheiden, | er ist gekommen, um zu bleiben.

Bleiben, das wird sie, die Kunst von Edward Gorey: Sein fantasievoller Nonsense, seine fein skizzierten Albträume; bleiben, wie das Gefühl, das jeden Gorey-Leser irgendwann beschleicht, das Gefühl, in der Welt selbst ein zweifelhafter Gast zu sein. Mit seinem Gorey-Buch empfängt Walter Moers solche Gäste, als ebenso aufmerksamer wie nonchalanter Gastgeber.

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