Wie geht es weiter mit Tilda und Ida? In ihrem erfolgreichen Debütroman „22 Bahnen“ von 2023 erzählte Caroline Wahl die Geschichte von Tilda, der älteren der beiden Schwestern, die mit einer alkoholkranken Mutter aufwachsen. In der Fortsetzung „Windstärke 17“ geht es – etwa 10 Jahre später – um die jüngere Ida, die den Tod der Mutter nur schwer verarbeiten kann.
Flucht aus der Wohnung der Kindheit
Einen Laptop, einen kaputten blauen Plastikkoffer mit Lieblingsklamotten und ihre Kopfhörer - mehr nimmt Ida nicht mit, als sie die Wohnung in der Fröhlichstraße 37 verlässt. Die Wohnung, in der sie mit ihrer älteren Schwester Tilda und ihrer Mutter aufgewachsen ist. Tilda ist schon lange ausgezogen, hat studiert und lebt jetzt als Professorin mit Freund und Kindern in Hamburg. Während sich in Tildas Leben alles wunderbar gefügt hat, stolpert Ida gerade von einem Unglück ins nächste. Und ihr wird klar: Sie muss raus aus der Fröhlichstraße.
Schuldgefühle gegenüber der Mutter
Die Mutter der beiden Schwestern ist tot. Mit dieser harten Nachricht beginnt Caroline Wahls Fortsetzung ihres gefeierten Debütromans „22 Bahnen“. Darin erzählte sie einfühlsam von Tilda und deren Verantwortung für Ida und ihre alkoholkranke Mutter.
Der zweite Band mit dem Titel „Windstärke 17“ knüpft etwa 10 Jahre später an. Im Mittelpunkt jetzt: Ida. Aus der kleinen Schwester ist eine junge Frau Anfang zwanzig geworden. Ihre blonden Locken und ihre Vorliebe für knallige Kleidung hat sie behalten.
Anstatt zu Malen wagt Ida die ersten Schritte als angehende Autorin. Doch das Schreiben liegt erst mal auf Eis: Ida ist diejenige, die ihre Mutter tot auffindet. Sie hat sich das Leben genommen. Und Ida fühlt sich schuldig. Hat sie sich um ihre Mutter zu wenig gekümmert? Dieser Gedanke zerfrisst Ida innerlich.
Selbstzerstörerisch stürzt sich Ida in die Ostsee
Die alkoholkranke Mutter, die für ihre Töchter nicht da war – sie lässt Ida nicht los. Es gibt für sie nur einen Ausweg: Abhauen. Ihr Handy im Flugmodus und in ihrem Kopf ein wütender, selbstzerstörerischer Sturm. Ida landet auf Rügen. Dort stürzt sie sich in die Ostsee, wirft sich in die Wellen, bei jeder Windstärke, wie es der Titel bereits andeutet:
Wie im Märchen: Ida findet Zuflucht bei gastfreundlichen Menschen
Man bekommt Angst um diese Ida, die so hart mit sich selbst ist, die erst Hilfe findet, als sie zusammenbricht und ein älteres Ehepaar sie bei sich aufnimmt. Eine Ersatzfamilie, bei der es drei warme Mahlzeiten am Tag gibt, Kaffee und Kuchen und heiße Eukalyptus-Bäder. An diesen Stellen sind sie dann wieder da, die Märchenelemente, die Caroline Wahl so kunstvoll in ihre Bücher einflicht: Die auf Rügen gestrandete Nixe Ida findet Zuflucht bei gastfreundlichen Menschen. Nicht in einem Schloss, dafür aber in einem klassischen Ostsee-Backsteinhaus. Eigentlich leben Tilda und Ida in einer harten Realität, die jede Märchenwelt tilgt.
Trotzdem schleicht sich die Märchenwelt immer wieder in die Realität ein. Und fordert ihre Heldinnen aufs Neue heraus.
Der Caroline-Wahl-Sound überzeugt auch im zweiten Band
Was Caroline Wahl bereits in „22 Bahnen“ gelungen ist, entwickelt sie jetzt in „Windstärke 17“ weiter: Sie erzählt in einer reduzierten, klaren Sprache, die sie mit ausgesuchten Details spickt. Kleidermarken oder Lebensmittelprodukte verraten nicht nur, in welchem Milieu die Figuren leben, sondern auch, was in den Figuren vor sich geht. Dieses Äußere verschränkt Caroline Wahl in ihrem zweiten Buch viel mehr mit Idas innerer Gefühlswelt. Und die ist meist eine sturmumtoste See.
Wasser ist das verbindende Element beider Bücher
Caroline Wahl gelingt es, berührend von Idas Kampf mit ihren inneren Dämonen zu erzählen. Und das in diesem Caroline-Wahl-Sound: Lakonisch, direkt, rhythmisch. Kurze Sätze, die sich immer wieder mal wiederholen und einen mit reinziehen in Idas Gefühlswelt. Und dann ist da natürlich das Wasser, das beide Bücher und beide Schwestern miteinander verbindet. In „22 Bahnen“ war es das Freibad, in dem Tilda Zuflucht vor der Welt gesucht hat. In „Windstärke 17“ ist es die grüngraue Ostsee, in die sich Ida regelmäßig stürzt. Und dank der Ida Zug für Zug Oberhand über ihre Geschichte gewinnen wird.
Weitere Infos zur Autorin:
Caroline Wahl wurde 1995 in Mainz geboren und wuchs in der Nähe von Heidelberg auf. Sie hat Germanistik in Tübingen und Deutsche Literatur in Berlin studiert. Danach arbeitete sie in mehreren Verlagen. 2023 erschien ihr Debütroman „22 Bahnen“, für den sie mit dem Ulla-Hahn-Autorenpreis, dem Grimmelshausen-Förderpreis und dem Buchpreis Familienroman der Stiftung Ravensburger Verlag ausgezeichnet wurde.
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Buchkritik Caroline Wahl – 22 Bahnen
Die ersten Freibäder im Südwesten haben bereits geöffnet, jetzt fehlt nur noch das passende Wetter. Anders geht es da Tilda und ihrer kleinen Schwester Ida, den beiden Hauptfiguren in dem Roman „22 Bahnen“: Besonders Ida liebt es, bei Nieselwetter im Freibad tauchen zu gehen. Es ist für sie eine kleine Flucht aus dem Alltag, in dem das Familienleben geprägt ist von der Alkoholsucht ihrer Mutter. Ihre große Schwester Tilda schlüpft immer mehr in die Mutter-Rolle und versucht nicht unterzugehen: Als Studentin, kurz vor ihrem Abschluss, als große Schwester mit viel Verantwortung und als junge Frau, die sich nach einem Leben jenseits der Pflichten und der öden Kleinstadt sehnt.
„22 Bahnen“ ist der Debütroman von Caroline Wahl, die in Mainz geboren und in der Nähe von Heidelberg aufgewachsen ist. Ein Debüt, das richtig begeistert, findet unsere Rezensentin Kristine Harthauer.
Dumont Verlag, 208 Seiten, 22 Euro
ISBN 978-3-8321-8278-6