Zu den Merkwürdigkeiten der amerikanischen Geschichte gehört, dass ausgerechnet im Land der Freiheit über Jahrhunderte eine Sklavenhaltung enormen Ausmaßes prosperieren konnte. In ihrem letzten Buch hat die amerikanische Politologin Judith Shklar diese Anomalie des politischen Amerikas zum Ausgangspunkt ihrer Reflexion über die Entstehung des amerikanischen Verständnisses von Staatsbürgerschaft genommen.
Als 1861 der Amerikanische Bürgerkrieg ausbrach, handelte es sich nicht nur um eine Auseinandersetzung zwischen den Befürwortern der Sklaverei und ihren Gegnern. Auf dem Spiel stand auch, in welche Richtung sich die Demokratie in den Vereinigten Staaten von Amerika entwickeln würde.
Viele Bürger im Norden betrachteten die wohlhabenden Plantagenbesitzer im Süden mit Argwohn. Ihre Erscheinung erinnerte sie an die Aristokraten in Europa. Bei dem politischen Kampf gegen die Sklaverei ging es daher nicht allein um das Schicksal der Betroffenen, sondern vor allem darum, dass deren Existenz auch eine Bedrohung für die Demokratie darstellte.
Das Versprechen der Gleichheit
In ihrem 1991 erschienenen Essay über die historischen Grundlagen der amerikanischen Staatsbürgerschaft hat Judith Shklar diese mit der Sklaverei verbundene Beunruhigung in den Mittelpunkt ihrer politischen Überlegungen gestellt. Nun liegt ihr Essay erstmals in einer deutschen Übersetzung unter dem Titel „Wählen und Verdienen“ vor.
An politischen Wahlen teilnehmen zu dürfen und seinen Lebensunterhalt selbst verdienen zu können, sind nach Shklar die beiden Aspekte amerikanischer Staatsbürgerschaft, die im American Dream zu einem einzigartigen Versprechen verschmolzen sind. Beides wurde den Sklaven vorenthalten, warum ihr Schicksal eine Warnung bedeuten konnte, aber zugleich auch Abneigung erzeugte, wie die Politologin ausführt:
Wie wir wissen, rief der Bürgerkrieg vor allem unter den städtischen Arbeitern des Nordens keine Begeisterungsstürme hervor, und Rassismus war unter ihnen weit verbreitet. Wenn Sklaverei als eine Bedrohung und Anomalie in einer demokratischen Gesellschaft gefürchtet war, dann war der Sklave in Wirklichkeit noch sehr viel mehr verachtet und gehasst. Die Ideologie der freien Arbeit fürchtete die Sklaverei, aber hasste den Sklaven.
Der Kampf um das Wahlrecht
In der amerikanischen Gesellschaft stellte die Sklaverei einen schwerwiegenden Widerspruch dar. Inmitten der Neuen Welt, die allen Bewohnern die gleichen Bürgerrechte zusicherte, lebten Menschen, die aller Rechte beraubt waren.
Dass das überhaupt möglich war, trieb vor allem diejenigen um, die ebenfalls nicht in den vollen Genuss der Bürgerrechte kamen. Weder Arbeiter noch Frauen durften wählen. Auch wenn ihnen niemals drohte, versklavt zu werden, verglichen sie ihre politische Stellung dennoch mit der Existenz der Sklaven. So war es ausgerechnet die Sklaverei, die den Kampf um das allgemeine Wahlrecht in Gang setzte, wie Shklar erläutert:
Was der Staatsbürgerschaft als Stellung ihre historische Bedeutung verlieh, ist nicht die Tatsache, dass sie für so lange Zeit so vielen verweigert wurde, sondern, dass diese Exklusion in einer Republik geschah, die nach außen hin der politischen Gleichheit verpflichtet war und deren Bürger glaubten, dass sie einer freien und gerechten Gesellschaft angehörten.
Das Recht auf Arbeit
Der hohe Wert, der in Amerika bereits im 19. Jahrhundert über alle Schichten hinweg dem Wahlrecht und der Arbeit beigemessen wurde, hat für Shklar in der Sklaverei seinen historischen Ausgangspunkt. Obwohl sich das Mitgefühl mit den Sklaven aufgrund eines weit verbreiteten Rassismus in Grenzen hielt, bildeten sie dennoch den Gegenpol zur Vorstellung eines freien Amerikaners, der sich selbst erhält und selbst bestimmt.
Die Folgen dieser Entwicklung sind bis heute spürbar. So hat sich in den USA nie ein Sozialstaat herausgebildet. Alle politischen Institutionen sind dem Ziel der Vollbeschäftigung verpflichtet. Der self-made man, und heute auch die Frau, ist das Ideal der amerikanischen Gesellschaft. Judith Shklar, die bis zu ihrem Tod eine führende Vertreterin des Liberalismus war, hat mit diesem Essay ihrer politischen Haltung ein Denkmal gesetzt.
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