Belletristik zur Bundestagswahl

Vier Romane, die von demokratischen Werten erzählen

Stand

Von Autor/in Frank Hertweck, Nina Wolf, Carsten Otte, Katrin Ackermann

Diese Romane erzählen von Demokratie, Macht und Widerstand – literarische Inspiration zur Bundestagswahl. Die Leseempfehlungen der SWR Kultur Literaturredaktion.

In einer Welt, in der Menschen demokratische Werte abwählen und in der Frieden gerade ein flüchtiger Zustand zu sein scheint, können Bücher Orientierung verschaffen. Denn Demokratie lebt vom Austausch, von Konflikten und von der Frage: In welcher Gesellschaft wollen wir leben?

Anders als bei empirischen Herangehensweisen in Sachbüchern, kann Literatur diese Fragen auf einzigartige Weise verhandeln – durch verschiedenste Perspektiven, ob gegenwärtig oder historisch.

Zur Bundestagswahl haben wir deshalb nach Romanen gefragt, die sich mit Demokratie, Macht und politischer Teilhabe auseinandersetzen. Herausgekommen ist eine vielseitige Liste – von Klassikern bis zu zeitgenössischen Titeln.

Stimmzettel für die Wahl am 23. Februar 2025
Am 23. Februar 2025 findet die 21. Wahl zum Deutschen Bundestag statt. Romane, die sich mit Demokratie und politischer Teilhabe beschäftigen, können bei der Entscheidungsfindung helfen.

Aischylos: Orestie

Ein Gründungstext der abendländischen Literatur – und zugleich eine Erzählung, die von den wildesten und brutalsten Rachefantasien erzählt und davon, dass ohne Kompromiss keine Gesellschaft überleben kann. 

Die „Orestie“ des Aischylos, des ältesten der großen griechischen Dramatiker. Aufgeführt wurde die Trilogie 458 v. u. Z. im Dionysostheater von Athen. Schon die Zeitgenossen wussten: Hier ist Großes entstanden. Die Trilogie gewann den Siegerpreis im Dichterwettstreit.  

Dabei herrschte eine Zeit multipler Krisen. Außenpolitisch überwarf sich Athen mit dem ewigen Rivalen Sparta, innenpolitisch wurde der alte Adel zwar entmachtet, aber wie es dann weitergehen sollte, war noch nicht ausgemacht. Alles schien möglich, die Gefahr eines Bürgerkriegs war noch nicht gebannt. Die „Orestie“ dokumentiert daher nicht nur einen dramatischen Konflikt, sondern ist selbst so etwas wie ein Appell zur Versöhnung.

Die Erinnyen verfolgen Orestes nach dem Mord an seiner Mutter Klytaimnestra. Gemälde von William Adolphe Bouguereau (1862)
Die Erinnyen verfolgen Orestes nach dem Mord an seiner Mutter Klytaimnestra. Ausschnitt eines Gemäldes von William Adolphe Bouguereau (1862)

Worum geht es? 

Agamemnon, der Anführer des griechischen Heers vor Troja, kehrt nach zehn Jahren siegreich heim nach Argos. Aber dort erwarten ihn seine Frau und deren Liebhaber, sie erschlagen ihn wie ein Tier. Die Mythosmaschine kennt kein Erbarmen, dafür sorgen die Rachegöttinen.

Orest, der Sohn des Agamemnon, tötet Mutter und Lover. Er kann fliehen, was die Erinnyen empört, denn Muttermord muss genauso gerächt werden wie der Vatermord. Doch der Gott Apollo bremst. Am Ende ist es die Zeustochter Athene, die in der mit allen rhetorischen Waffen geführten Verhandlung gegen die Befürworter der Rache das Urteil spricht: Orest soll leben.  

Entscheidend ist in diesem Kosmos nicht der Rechtsspruch, denn was, fragt Aischylos, bringt uns ein Recht, wenn die Gesellschaft gespalten bleibt? Es ist die ungeheure Pointe dieses Dramas, dass Recht nichts hilft, wenn eine gemeinsame gesellschaftliche Basis fehlt. Athene gelingt es, die Wutaffekte der Rachegöttinnen durch Überredung zu bändigen, ja einzubinden. Aus den Erinnyen werden die Eumeniden, die Wohlgesinnten.

Es geht also, lernen wir, nicht darum, durch Recht Emotionen zu neutralisieren, weil die nie verschwinden werden, sondern darum, Zorn in Zuspruch zu verwandeln. Das kann nur Sprache, Verständigung.  

Frank Hertweck, Redaktionsleiter SWR Kultur Literatur

Amir Gudarzi: Das Ende ist nah

Ein junger, iranischer Künstler muss vor dem repressiven Regime in seiner Heimat fliehen. In Österreich hofft der Erzähler, A., auf Schutz, doch stößt er an sichtbare und unsichtbare Grenzen. Amir Gudarzis Roman „Das Ende ist nah“ erzählt von einem Leben im Zwischenraum – zwischen Diktatur und Demokratie, Hoffnung und Desillusionierung.

Demokratie ist kein abstraktes Ideal, sondern gelebte Realität – oder eben nicht. Der ehemalige Theaterstudent erlebt, wie die österreichische Gesellschaft mit ihrem Versprechen von Freiheit und Gleichheit bricht. A. begegnet Misstrauen, Ausgrenzung und bürokratischen Hürden, Gewalt und Repression.

Freiheit ist kein Selbstläufer

Mit scharfem Blick erzählt „Das Ende ist nah“ von den Hürden, die ein Mensch, der zum Flüchtling wurde, bewältigen muss. Der Roman erinnert daran, dass auch in allgegenwärtigen Asyl- und Migrationsdebatten demokratische Werte und Menschenrechte verteidigt, hinterfragt und eingefordert werden müssen – immer wieder, von allen.

Und daran, dass Freiheit kein Selbstläufer ist, sondern verteidigt und erkämpft werden muss.

Nina Wolf, Redakteurin SWR Kultur Literatur

Robert Menasse: Die Erweiterung

Kaum ein Schriftsteller deutscher Sprache beschäftigt sich so intensiv mit der europäischen Demokratie wie Robert Menasse. Der österreichische Romanautor und Essayist weiß, dass sich dem so sperrigen wie unsinnlichen Thema literarisch nur etwas abringen lässt, wenn Geschichten von den Rändern der Demokratie erzählt werden.

Soll Albanien in die Europäische Union aufgenommen werden? In seinem Roman „Die Erweiterung“ beschäftigen sich Politiker und Beamte, Blutsbrüder und Liebespaare mit dieser Frage, die zu einem seltsamen Helm mit gehörntem Ziegenkopf und auf ein Kreuzfahrtschiff führt, das mit versammelter EU-Prominenz über das Mittelmeer herumirrt.   

Schriftsteller Robert Menasse auf der Phil.Cologne 2024
Der österreichische Schriftsteller und politische Essayist Robert Menasse

Zwischen EU-Politik und europäischen Werten

Es gehört zu den im Roman gut herausgearbeiteten Gegensätzen aktueller EU-Politik, dass die vielbeschworenen europäischen Werte in jenen Staaten, die der EU beitreten wollen, deutlich engagierter umgesetzt werden als in einigen Mitgliedsländern, die lediglich um ihre finanziellen Pfründe fürchten und sich zu autoritären Systemen zurückentwickeln.

Jenseits der politischen Erzählebene überzeugt das Prosawerk mit einer Vielzahl von transnationalen Liebesgeschichten, als würde das demokratische Europa vor allem durch emotionale Verbindungslinien zusammengehalten werden.

Carsten Otte, Redakteur SWR Kultur Literatur

Paul Lynch: Das Lied des Propheten

In seiner politischen Dystopie „Das Lied des Propheten“ schildert Paul Lynch ein Land, in dem eine rechtspopulistische Bewegung an die Macht gelangt und das Leben der Menschen dort auf den Kopf stellt.

Anhand einer Familie, genauer an Eilish, einer Mikrobiologin mit vier Kindern als Hauptfigur, zeigt Lynch die Auswirkungen dieser autokratischen Regierung, die für Unterdrückung der Gesellschaft und das Aushebeln von Grundrechten sorgt. Eilishs Mann, ein Gewerkschaftssekretär, wird verhaftet und verschwindet. Auf sich allein gestellt, tut Eilish alles, um ihre Familie zu schützen.

Schriftsteller Paul Lynch posiert an einer antiken Ziegelwand im Colosseum beim Internationalen Literaturfestival Rom 2024
Für seinen Roman „Das Lied des Propheten“ wurde der irische Schriftsteller Paul Lynch 2023 mit dem Booker Prize ausgezeichnet.

Beklemmendes Weiterdenken antidemokratischer Positionen

Die Geschichte lässt der Autor an realen Orten stattfinden: in Irland, einem EU-Land im Herzen Europas. Was vor einigen Jahren vielleicht noch unglaubwürdig erschien, wirkt heute – besonders mit Blick auf die politische Lage vieler europäischer Länder – umso näher an der Realität.

So denkt Paul Lynch mit seinem Roman den Gedanken vieler antidemokratischer Bewegungen auf beklemmende und aufwühlende Weise weiter. „Das Lied des Propheten“, wofür der Autor 2023 mit dem Booker Prize ausgezeichnet wurde, kann als Appell gegen totalitäre und unterdrückende Regime gelesen werden und ist somit hochaktuell.

Katrin Ackermann, redaktionelle Mitarbeit SWR Kultur Literatur

Neuübersetzung des Romans von 1984 „Die Schattenräume der amerikanischen Politik“: Joan Didions „Demokratie“

Ein Roman über politische Schattenräume, sprachlich präzise geschrieben und mit brisanter Aktualität im Kontext des US-Wahlkampfs. Antje Rávik Strubel über ihre Neuübersetzung.

Die Deutschen und ihre Demokratie seit den 1980er Jahren Christina Morina erhält für „Tausend Aufbrüche“ den Deutschen Sachbuchpreis 2024

Für ihre „augenöffnende zeitgeschichtliche Analyse“ untersuchte die Historikerin Briefe, Petitionen, Flugblätter von Bürger*innen in Ost und West der 1980er Jahre. Wie wichtig war 1989 für unsere Demokratie?

SWR2 lesenswert Kritik Moritz Holzgraefe, Nils Ole Oermann – Digitale Plattformen als Staaten. Legitimität, Demokratie und Ethik im digitalen Zeitalter

In ihrem Buch widmen sich Moritz Holzgraefe und Nils Ole Oermann den Machtkonflikten zwischen Staaten und Plattformen.

Buchkritik Anne Applebaum – Die Achse der Autokraten

Wie kam es zu dem internationalen Netzwerk kleptokratischer Autokratien, die heute die freiheitliche westliche Weltordnung untergraben?
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Buchkritik Timothy Snyder – Über Freiheit

Timothy Snyder, einer der prominentesten Intellektuellen der USA, entwickelt in seinem neuen Buch eine Philosophie der Freiheit.
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Bundestagwahl 2025 KI im Wahlkampf: Gefährdet die Künstliche Intelligenz die Demokratie?

Die Risiken der KI sind groß, gerade im Wahlkampf. Nicht die KI sei das Problem, so Andreas Jungherr, Professor für Digitale Transformation, sondern wem sie überlassen werde.

Bundestagswahl 2025 Wahlprogramme zur Kultur: Wo Parteien ihr wahres Gesicht zeigen

Nur wenige lesen Wahlprogramme. Schon gar nicht den Teil zur Kultur. Doch nirgendwo verraten die Parteien klarer, wie sie ticken. Hier zeigt jede Partei ihr wahres Gesicht.

Parteien nutzen Musik für Wahlwerbung Wie Popmusik politische Botschaften im Bundestagswahlkampf vermitteln soll

Parteien nutzen Popmusik, um ihren potenziellen WählerInnen Botschaften oder auch einfach nur ein gutes Wir-Gefühl zu vermitteln.

Demographie Wie zuverlässig sind Wahlumfragen?

Wer macht das Rennen bei der Bundestagswahl? Ein Forschungsteam der Universität Mannheim wertet sämtliche Wahlumfragen der verschiedenen Meinungsforschungs-Institute aus. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler geben einen Überblick, welche Szenarien am wahrscheinlichsten sind und was sich noch alles ändern kann.
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ARD-Doku „Die Vertrauensfrage“ vor der Bundestagswahl Filmemacher Stephan Lamby: Bruch der Ampelkoalition hat viel Vertrauen zerstört

Filmemacher Stephan Lamby hat für ARD-Dokumentation „Vertrauensfrage. Wer kann Deutschland regieren?“ Spitzenpolitiker über Monate begleitet und resümiert im Gespräch mit SWR Kultur: „Das Vertrauen ist verloren gegangen, darin sind sich eigentlich alle einig.“ Besonders der Bruch der Ampelkoalition habe Spuren hinterlassen.

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Frank Hertweck
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SWR Kultur Literaturkritiker Carsten Otte
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