In einer Welt, in der Menschen demokratische Werte abwählen und in der Frieden gerade ein flüchtiger Zustand zu sein scheint, können Bücher Orientierung verschaffen. Denn Demokratie lebt vom Austausch, von Konflikten und von der Frage: In welcher Gesellschaft wollen wir leben?
Anders als bei empirischen Herangehensweisen in Sachbüchern, kann Literatur diese Fragen auf einzigartige Weise verhandeln – durch verschiedenste Perspektiven, ob gegenwärtig oder historisch.
Zur Bundestagswahl haben wir deshalb nach Romanen gefragt, die sich mit Demokratie, Macht und politischer Teilhabe auseinandersetzen. Herausgekommen ist eine vielseitige Liste – von Klassikern bis zu zeitgenössischen Titeln.
- Aischylos: Orestie
- Amir Gudarzi: Das Ende ist nah
- Robert Menasse: Die Erweiterung
- Paul Lynch: Das Lied des Propheten

Aischylos: Orestie
Ein Gründungstext der abendländischen Literatur – und zugleich eine Erzählung, die von den wildesten und brutalsten Rachefantasien erzählt und davon, dass ohne Kompromiss keine Gesellschaft überleben kann.
Die „Orestie“ des Aischylos, des ältesten der großen griechischen Dramatiker. Aufgeführt wurde die Trilogie 458 v. u. Z. im Dionysostheater von Athen. Schon die Zeitgenossen wussten: Hier ist Großes entstanden. Die Trilogie gewann den Siegerpreis im Dichterwettstreit.
Dabei herrschte eine Zeit multipler Krisen. Außenpolitisch überwarf sich Athen mit dem ewigen Rivalen Sparta, innenpolitisch wurde der alte Adel zwar entmachtet, aber wie es dann weitergehen sollte, war noch nicht ausgemacht. Alles schien möglich, die Gefahr eines Bürgerkriegs war noch nicht gebannt. Die „Orestie“ dokumentiert daher nicht nur einen dramatischen Konflikt, sondern ist selbst so etwas wie ein Appell zur Versöhnung.

Worum geht es?
Agamemnon, der Anführer des griechischen Heers vor Troja, kehrt nach zehn Jahren siegreich heim nach Argos. Aber dort erwarten ihn seine Frau und deren Liebhaber, sie erschlagen ihn wie ein Tier. Die Mythosmaschine kennt kein Erbarmen, dafür sorgen die Rachegöttinen.
Orest, der Sohn des Agamemnon, tötet Mutter und Lover. Er kann fliehen, was die Erinnyen empört, denn Muttermord muss genauso gerächt werden wie der Vatermord. Doch der Gott Apollo bremst. Am Ende ist es die Zeustochter Athene, die in der mit allen rhetorischen Waffen geführten Verhandlung gegen die Befürworter der Rache das Urteil spricht: Orest soll leben.
Entscheidend ist in diesem Kosmos nicht der Rechtsspruch, denn was, fragt Aischylos, bringt uns ein Recht, wenn die Gesellschaft gespalten bleibt? Es ist die ungeheure Pointe dieses Dramas, dass Recht nichts hilft, wenn eine gemeinsame gesellschaftliche Basis fehlt. Athene gelingt es, die Wutaffekte der Rachegöttinnen durch Überredung zu bändigen, ja einzubinden. Aus den Erinnyen werden die Eumeniden, die Wohlgesinnten.
Es geht also, lernen wir, nicht darum, durch Recht Emotionen zu neutralisieren, weil die nie verschwinden werden, sondern darum, Zorn in Zuspruch zu verwandeln. Das kann nur Sprache, Verständigung.
Frank Hertweck, Redaktionsleiter SWR Kultur Literatur
Amir Gudarzi: Das Ende ist nah
Ein junger, iranischer Künstler muss vor dem repressiven Regime in seiner Heimat fliehen. In Österreich hofft der Erzähler, A., auf Schutz, doch stößt er an sichtbare und unsichtbare Grenzen. Amir Gudarzis Roman „Das Ende ist nah“ erzählt von einem Leben im Zwischenraum – zwischen Diktatur und Demokratie, Hoffnung und Desillusionierung.
Demokratie ist kein abstraktes Ideal, sondern gelebte Realität – oder eben nicht. Der ehemalige Theaterstudent erlebt, wie die österreichische Gesellschaft mit ihrem Versprechen von Freiheit und Gleichheit bricht. A. begegnet Misstrauen, Ausgrenzung und bürokratischen Hürden, Gewalt und Repression.
Freiheit ist kein Selbstläufer
Mit scharfem Blick erzählt „Das Ende ist nah“ von den Hürden, die ein Mensch, der zum Flüchtling wurde, bewältigen muss. Der Roman erinnert daran, dass auch in allgegenwärtigen Asyl- und Migrationsdebatten demokratische Werte und Menschenrechte verteidigt, hinterfragt und eingefordert werden müssen – immer wieder, von allen.
Und daran, dass Freiheit kein Selbstläufer ist, sondern verteidigt und erkämpft werden muss.
Nina Wolf, Redakteurin SWR Kultur Literatur
Robert Menasse: Die Erweiterung
Kaum ein Schriftsteller deutscher Sprache beschäftigt sich so intensiv mit der europäischen Demokratie wie Robert Menasse. Der österreichische Romanautor und Essayist weiß, dass sich dem so sperrigen wie unsinnlichen Thema literarisch nur etwas abringen lässt, wenn Geschichten von den Rändern der Demokratie erzählt werden.
Soll Albanien in die Europäische Union aufgenommen werden? In seinem Roman „Die Erweiterung“ beschäftigen sich Politiker und Beamte, Blutsbrüder und Liebespaare mit dieser Frage, die zu einem seltsamen Helm mit gehörntem Ziegenkopf und auf ein Kreuzfahrtschiff führt, das mit versammelter EU-Prominenz über das Mittelmeer herumirrt.

Zwischen EU-Politik und europäischen Werten
Es gehört zu den im Roman gut herausgearbeiteten Gegensätzen aktueller EU-Politik, dass die vielbeschworenen europäischen Werte in jenen Staaten, die der EU beitreten wollen, deutlich engagierter umgesetzt werden als in einigen Mitgliedsländern, die lediglich um ihre finanziellen Pfründe fürchten und sich zu autoritären Systemen zurückentwickeln.
Jenseits der politischen Erzählebene überzeugt das Prosawerk mit einer Vielzahl von transnationalen Liebesgeschichten, als würde das demokratische Europa vor allem durch emotionale Verbindungslinien zusammengehalten werden.
Carsten Otte, Redakteur SWR Kultur Literatur
Paul Lynch: Das Lied des Propheten
In seiner politischen Dystopie „Das Lied des Propheten“ schildert Paul Lynch ein Land, in dem eine rechtspopulistische Bewegung an die Macht gelangt und das Leben der Menschen dort auf den Kopf stellt.
Anhand einer Familie, genauer an Eilish, einer Mikrobiologin mit vier Kindern als Hauptfigur, zeigt Lynch die Auswirkungen dieser autokratischen Regierung, die für Unterdrückung der Gesellschaft und das Aushebeln von Grundrechten sorgt. Eilishs Mann, ein Gewerkschaftssekretär, wird verhaftet und verschwindet. Auf sich allein gestellt, tut Eilish alles, um ihre Familie zu schützen.

Beklemmendes Weiterdenken antidemokratischer Positionen
Die Geschichte lässt der Autor an realen Orten stattfinden: in Irland, einem EU-Land im Herzen Europas. Was vor einigen Jahren vielleicht noch unglaubwürdig erschien, wirkt heute – besonders mit Blick auf die politische Lage vieler europäischer Länder – umso näher an der Realität.
So denkt Paul Lynch mit seinem Roman den Gedanken vieler antidemokratischer Bewegungen auf beklemmende und aufwühlende Weise weiter. „Das Lied des Propheten“, wofür der Autor 2023 mit dem Booker Prize ausgezeichnet wurde, kann als Appell gegen totalitäre und unterdrückende Regime gelesen werden und ist somit hochaktuell.
Katrin Ackermann, redaktionelle Mitarbeit SWR Kultur Literatur