War Franz Kafka ein Familienmensch? Diesen Eindruck hat der lebenslange Junggeselle eher nicht erweckt. Im Gegenteil, er pflegte gern das Image des Außenseiters. Doch der Eindruck trügt, wie Hans-Gerd Koch in seinem Fotoalbum „Kafkas Familie“ zeigt.
Mit seiner Familie hätte Franz Kafka lieber nichts zu tun gehabt. Diesen Eindruck erwecken zumindest bestimmte Passagen in seinen Tagebüchern, Briefen und vor allem sein berühmter „Brief an den Vater“. In diesem Prosatext wird nicht nur der Vater Hermann als übermächtig und übervital porträtiert, auch die Schwestern Elli und Valli werden wenig schmeichelhaft gezeichnet. Die große Ausnahme: Ottla, die jüngste der drei Schwestern. So schreibt der 29-jährige Kafka 1912 an seine spätere Dauerverlobte Felice Bauer:
Der Dichter im Hauptquartier des Lärms
Hier kommen also auch die anderen beiden Schwestern gar nicht so schlecht weg. Aber insgesamt bemüht sich der junge Dichter, das Image des vom familiären Trubel in der elterlichen Wohnung Gemarterten zu kultivieren, im „Hauptquartier des Lärms“, wie er schreibt. Dass der neue Text-Bild-Band des Kafka-Herausgebers Hans-Gerd Koch den Titel „Kafkas Familie“ und den Untertitel „Ein Fotoalbum“ trägt, könnte deshalb verwundern. Aber ebenso, wie die Arbeit des promovierten Juristen Franz Kafka bei der Arbeiter-Unfallversicherungsanstalt nicht die reine Fron war, sondern ein vergleichsweise lauer Job mit Feierabend ab mittags um zwei, ebenso wenig ist Kafka vorstellbar ohne seine große Verwandtschaft.
Hans-Gerd Koch dokumentiert dies mit mehr als 100 Fotografien, zum Großteil aus dem vom Verleger Klaus Wagenbach aufbewahrten Kafka’schen Familien-Archiv, ergänzt um schlaglichtartig ausgewählte Auszüge aus Tagebuchnotizen und Briefen. Anhand der so eingeordneten Aufnahmen führt der Herausgeber durch die Familiengeschichte, von den Großelternpaaren Kafka und Löwy über die Eltern Julie und Hermann Kafka und deren zahlreiche Geschwister bis zu den Kindern der Schwestern Elli, Valli und Ottla, Franz‘ Nichten und Neffen also, für die der Onkel sich durchaus und sehr wohlwollend interessierte.
Unverdüsterte Mitteilungen aus der Sommerfrische
In einigen dieser Briefe ist Kafka ganz der verantwortungsvolle große Bruder, der etwa der Schwester Elli nahelegt, sie möge ihre kleine Tochter in die Reformschule Dresden-Hellerau schicken. In anderen schreibt er aus der Sommerfrische in böhmischen Bädern, an der Ostsee oder, nach Ausbruch seiner Tuberkulose-Erkrankung, bei Schwester Ottla, die während des Ersten Weltkriegs das Gut ihres Schwagers bewirtschaftete. Ihr vom Kriegsdienst freigestellter Bruder genoss derweil den heiteren Landaufenthalt, wie er im September 1917 einem Freund schreibt:
Franz Kafka ließ sich nicht gern fotografieren. Von den bekannten Kinderbildnissen und Passfotos abgesehen, ist er nur auf wenigen der Schnappschüsse und Gruppenbilder vertreten. Umso reichlicher sind die Aufnahmen der Verwandtschaft. Auf diese Weise vervollständigt sich nicht nur das Porträt Franz Kafkas, es entsteht auch ein Zeitbild jüdischen Aufstiegs in den letzten Jahrzehnten des Habsburgerreichs und der Umbrüche, die Weltkrieg und Gründung der tschechoslowakischen Republik mit sich brachten.
Hans-Gerd Koch fasst in seiner Nachbemerkung zusammen, wie es für die Familie nach Kafkas Tod am 3. Juni 1924 weiterging. Während der deutschen Besatzung starben alle drei Schwestern Anfang der Vierzigerjahre in Konzentrationslagern, auch viele der Nichten und Neffen, deren Kinderbildnisse in diesem Album versammelt sind, wurden ermordet. Angesichts dessen wirken die fotografischen Zeugnisse dieses lebendigen Familienzusammenhangs umso eindrücklicher.
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ISBN 978-3-446-27972-8
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