Die Nachkriegsarchitektur entdecken, vermitteln und bewahren – so lautet das Ziel der Mainzer Initiative „Die Betonisten“. Dafür haben sie im vergangenen Jahr den Deutschen Preis für Denkmalschutz bekommen. Jetzt veröffentlichen sie ihren ersten eigenen Bildband. Es ist ein Buch, das den Blick für Mainzer Architektur und Städtebau in den Jahren 1970 bis 2000 schärft.
„Es hat eine unheimliche Dynamik“
Ein riesiges farbenfrohes Raumschiff ist auf dem Mainzer Lerchenberg gelandet – dieser Gedanke kommt einem sofort beim Blick auf das Sendebetriebsgebäude des ZDF. Es ist ein dreistöckiger Rundbau, in den drei weitere Zylinder integriert sind, wie Zahnräder, die ineinandergreifen. Das Gebäude von 1984 gehört zu den Projekten, die die Betonisten in ihrem neuen Bildband vorstellen.
Für Redakteur und Co-Autor Robinson Michel ist es eines seiner Highlights: „Das ist so ein expressiver Bau, so ein buntes Konglomerat aus Formen. Es hat eine unheimliche Dynamik. Wenn man auf das großformatige Bild schaut, das in unserem Buch ist, dann weiß man gar nicht: Wo schaue ich als erstes hin? Wo fängt das Gebäude an und wo hört es auf.“
Nach dem Wiederaufbau ist Schluss mit Bescheidenheit
Ein selbstbewusstes Statement, sagt Robinson Michel, und ganz typisch für die Architektur der 1970er- bis 1990er-Jahre.
1970 ist der erste Wiederaufbau nach dem Krieg auch in Mainz abgeschlossen, es warten neue Aufgaben: Die Stadt entwickelt sich zum wichtigen Medien- und Universitätsstandort, aber auch Banken, Hotels und Unternehmen wollen expandieren.
Mit der Bescheidenheit beim Bauen ist es vorbei, wie etwa die Zwillingshochhäuser am Mainzer Hauptbahnhof, die Bonifaziustürme, überdeutlich demonstrieren: 25 Stockwerke hoch, markante Betonfassade und verspiegelte Scheiben. Gefällige Architektur sieht anders aus.
Selbstbewusste, eigenständige Architekturen
„Heute fordern wir eigentlich immer, dass Architektur ein bisschen mehr Ausdruck haben soll“, meint Robinson Michel, „und viele Architektur, die heute entsteht, bezeichnen wir als gesichtslos. Ich glaube das kann man der Architektur im 20. Jahrhundert in keinem Jahrzehnt vorwerfen. Das sind sehr selbstbewusste und sehr eigenständige Architekturen.“
Ein mächtiges Dach-Gebirge aus gewalztem Blei krönt ein katholisches Bildungszentrum. Ein postmodernes Bankgebäude greift Elemente der italienischen Palazzo-Architektur auf. Die gezeigten Gebäude spielen mit den unterschiedlichsten Stilen und präsentieren ein neues Selbstverständnis.
Einige Beiträge stammen vom 83-jährigen Architekten und Stadtplaner Rainer Metzendorf. Vor drei Jahren hat er ein Buch über die Mainzer Nachkriegsarchitektur herausgegeben, bei dem ihn die Betonisten unterstützt haben.
Jetzt sind sie selbst für alles verantwortlich, auch für die Auswahl der Gebäude: „Tatsächlich sind wir einfach viel in der Stadt unterwegs gewesen“, erklärt Michel. „Und so hat einfach jeder ein paar Objekte mitgebracht, ergänzt durch Google Maps-Überflüge und natürlich auch nochmal einen Austausch mit Herrn Metzendorf. 49 sind es dann am Ende geworden.“
Die Betonisten bei der Landesschau Rheinland-Pfalz (2023)
Historische Fotos laden zur Zeitreise ein
Es ist eine spannende Zeitreise, zu der uns vor allem die historischen Fotos einladen. Man erfährt Vieles über die Entstehung der einzelnen Gebäude. Erstaunlich, welche Bedenken und Diskussionen es manchmal im Vorfeld gab. Vor dem Bau der Zwillingshochhäuser am Hauptbahnhof ließ man etwa Ballons aufsteigen, um eine konkrete Vorstellung von der Höhe der Gebäude zu bekommen.
Schön oder hässlich? Gelungen oder nicht? Auf eine Bewertung der Architektur verzichten die Betonisten ganz bewusst: „Achitektur hat so viele Dimensionen, in denen es qualitätvoll gut sein kann. Es kann städtebaulich sehr gute Architektur geben, es kann sehr gute Raumsituationen geben und tolle Lichtspiele, ohne dass mir der Stein oder die Form des Portals besonders gefallen muss.“
Auf rund 100 Seiten schärft der Bildband den Blick für die Architektur der 1970er-, 1980er- und 19990er-Jahre in Mainz. Für regelrechte Aha-Momente sorgen einige Bilder aus der Vogelperspektive – sie machen so manche Entwurfsidee erst richtig begreifbar. Das Ziel der Betonisten ist die Architekturvermittlung. Mit diesem Buch sind sie wieder einen ganzen Schritt vorangekommen.
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