In seiner „Biographie“ der Ukraine erzählt der ukrainische Historiker Yaroslav Hrytsak die Geschichte seines Landes von der Wikingerzeit bis zur Gegenwart. Dabei verliert er den aktuellen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine nie aus den Augen.
Yaroslav Hrytsaks Buch über die Ukraine ist in seiner Heimat ein Bestseller. Mittlerweile in neunter Auflage, stillt dieses Grundlagenwerk offenbar ein elementares Bedürfnis der Ukrainer, sich mit ihrem Land und ihrer Geschichte auseinanderzusetzen.
Hrytsaks Buch, das nun unter dem Titel „Ukraine. Biographie einer bedrängten Nation“ auf Deutsch erschienen ist, handelt von der Kiewer Rus, einer Art vornationalem Handelsbündnis, dessen Gründer im 9. Jahrhundert Wikinger waren – und von den globalen Folgen der Entdeckung Amerikas.
Damals brachte ein intensiverer Warenverkehr entscheidende Impulse auch für Osteuropa, bis hin zur Gründung eines Kosakenstaats im Jahr 1648.
Kosakentum als Herzstück der Nation
Dem Kosakentum mit seinen urdemokratischen Strukturen – für Hrytsak ein Herzstück noch der heutigen Ukraine – ist im Buch ein eigenes Kapitel gewidmet. Die Kosaken wählten ihren Anführer jeweils auf Versammlungen in der Sitsch, ihrem Hauptquartier. In Russland hatten die Kosaken eine ganz andere Rolle, betont Hrytsak.
Mit den Kosaken hat es auch zu tun, dass Russen Ukrainer bis heute gern „chochly“ nennen, nach der einzelnen Haarsträhne auf dem kahlgeschorenen Kopf.
Das verlustreiche 20. Jahrhundert
Weiter geht es in Hrytsaks Buch von den blutigen Jahren des Ersten Weltkriegs zum millionenfachen Mord des Zweiten Weltkriegs. Die Gemetzel wurden oft genug durch Begehrlichkeiten nach den fruchtbaren Böden der Ukraine ausgelöst.
Die Tatsache, dass Teile der ukrainischen Bevölkerung in den 1940ern mit deutschen Einheiten kollaborierten, um nationale Autonomie zu erlangen, benutzt die Putinsche Propaganda bis heute, indem sie Ukrainer grundsätzlich als „Faschisten“ bezeichnet.
Dagegen hält Hrytsak, dass in der heutigen Ukraine alle Ethnien, von den Krimtataren bis zu den Juden, gegen Russland zusammenstehen. Das hat auch damit zu tun, dass die moderne Ukraine sich ihrer Mitverantwortung am Holocaust bereits gestellt hat.
Loslösung aus dem russischen Narrativ
Hrytsaks starkes Buch treibt die Loslösung der ukrainischen Geschichte aus dem so lange dominanten russischen Narrativ weiter voran. Punkt für Punkt widerlegt Hrytsak Putins neoimperiale Argumentation, die stets darauf hinausläuft, dass die Ukraine ein marginales Land ohne eigene Identität sei. Ein gut zu lesendes Buch, dass auch deutschen Lesern die ukrainische Perspektive überzeugend näherbringt.
Mehr Literatur über die Ukraine
Gespräch Stephan Orth – Couchsurfing in der Ukraine
Über die Auswirkungen des russischen Angriffs erzählt Stephan Orth in seinem neuen Buch „Couchsurfing in der Ukraine“. Katharina Borchardt hat mit ihm über seine Reiseerfahrungen gesprochen.
Buchkritik Alex Lissitsa – Meine wilde Nation
In seinem Buch „Meine wilde Nation“ zeichnet Alex Lissitsa ein facettenreiches Portrait der Ukraine.
Rezension von Jochen Rack
Gedichte und ihre Geschichte „Den Krieg übersetzen" - Aktuelle Gedichte aus der Ukraine
Ukrainische Lyrikerinnen und Lyriker erleben den aktuellen Krieg in ihrem Land als radikalen Einschnitt, als lebensbedrohende Konfrontation, der nicht zu entkommen ist. Die Übersetzerin und Ukrainistik-Dozentin Claudia Dathe von der Europäischen Universität Viadrina in Frankfurt/Oder beobachtet, dass sich diese Erfahrung unmittelbar auf die poetische Sprache auswirkt. Sie hat ein Übersetzungsprojekt gestartet, das sich Texten widmet, die seit 2022 entstanden sind und den Krieg thematisieren. Am 14. März 2024 erscheint unter Claudia Dathes Herausgeberschaft der Band „Den Krieg übersetzen" in der edition.fotoTAPETA.
Buchtipp Nora Krug illustriert den Ukraine-Krieg: Notizen aus der Hölle
Was macht der Ukraine-Krieg mit den Menschen? Die Schriftstellerin Nora Krug und ihr neues Buch „Im Krieg – zwei illustrierte Tagebücher aus Kiew und St. Petersburg“.
SWR2 lesenswert Kritik Katharina Raabe, Kateryna Mishchenko (Hrg.) – Aus dem Nebel des Krieges. Die Gegenwart der Ukraine
Von der Bilderflut des Ukraine-Kriegs handelt dieser brandaktuelle Sammelband, aber auch vom Versuch, über Momentaufnahmen hinaus seine Folgen einzuordnen.
Suhrkamp Verlag, 288 Seiten, 20 Euro
ISBN 978-3-518-02982-4