Buchkritik

Yaroslav Hrytsak – Ukraine. Biographie einer bedrängten Nation

Stand
Autor/in
Judith Leister

In seiner „Biographie“ der Ukraine erzählt der ukrainische Historiker Yaroslav Hrytsak die Geschichte seines Landes von der Wikingerzeit bis zur Gegenwart. Dabei verliert er den aktuellen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine nie aus den Augen.

Yaroslav Hrytsaks Buch über die Ukraine ist in seiner Heimat ein Bestseller. Mittlerweile in neunter Auflage, stillt dieses Grundlagenwerk offenbar ein elementares Bedürfnis der Ukrainer, sich mit ihrem Land und ihrer Geschichte auseinanderzusetzen.

Mein Buch ist sehr populär bei Ukrainern, besonders bei denen im Osten, in den großen russischsprachigen Städten, die seit Kurzem ukrainische Patrioten sind. Das ist ein radikaler Wandel. Viele Ukrainer haben jetzt erst ihre nationale ukrainische Identität entdeckt.

Hrytsaks Buch, das nun unter dem Titel „Ukraine. Biographie einer bedrängten Nation“ auf Deutsch erschienen ist, handelt von der Kiewer Rus, einer Art vornationalem Handelsbündnis, dessen Gründer im 9. Jahrhundert Wikinger waren – und von den globalen Folgen der Entdeckung Amerikas.

Damals brachte ein intensiverer Warenverkehr entscheidende Impulse auch für Osteuropa, bis hin zur Gründung eines Kosakenstaats im Jahr 1648.

Kosakentum als Herzstück der Nation

Dem Kosakentum mit seinen urdemokratischen Strukturen – für Hrytsak ein Herzstück noch der heutigen Ukraine – ist im Buch ein eigenes Kapitel gewidmet. Die Kosaken wählten ihren Anführer jeweils auf Versammlungen in der Sitsch, ihrem Hauptquartier. In Russland hatten die Kosaken eine ganz andere Rolle, betont Hrytsak.

Natürlich gibt es auch russische Kosaken: Donkosaken, Kubankosaken, Uralkosaken. Doch sie unterscheiden sich deutlich von den ukrainischen Kosaken. Die russische Geschichte kann man leicht ohne Kosaken schreiben, weil die Kapitel über sie etwas über den russischen Staat erzählen, nicht aber über die Kosaken. Die ukrainische Geschichte dagegen kann man nicht ohne die Kosaken erzählen, weil sie eine Geschichte von unten nach oben ist. Im Gegensatz dazu ist die russische Geschichte eine Geschichte von oben nach unten.

Mit den Kosaken hat es auch zu tun, dass Russen Ukrainer bis heute gern „chochly“ nennen, nach der einzelnen Haarsträhne auf dem kahlgeschorenen Kopf.

Das verlustreiche 20. Jahrhundert

Weiter geht es in Hrytsaks Buch von den blutigen Jahren des Ersten Weltkriegs zum millionenfachen Mord des Zweiten Weltkriegs. Die Gemetzel wurden oft genug durch Begehrlichkeiten nach den fruchtbaren Böden der Ukraine ausgelöst.

Die Tatsache, dass Teile der ukrainischen Bevölkerung in den 1940ern mit deutschen Einheiten kollaborierten, um nationale Autonomie zu erlangen, benutzt die Putinsche Propaganda bis heute, indem sie Ukrainer grundsätzlich als „Faschisten“ bezeichnet.

Dagegen hält Hrytsak, dass in der heutigen Ukraine alle Ethnien, von den Krimtataren bis zu den Juden, gegen Russland zusammenstehen. Das hat auch damit zu tun, dass die moderne Ukraine sich ihrer Mitverantwortung am Holocaust bereits gestellt hat.

Was die meisten westlichen Beobachter, einschließlich der deutschen, nicht zur Kenntnis nehmen, ist die große Gruppe der Juden in der Ukraine, die sich ganz bewusst als Ukrainer fühlen. Da gab es jetzt einen sehr bewegenden Fall: Der oberste Rabbiner von Kiew hat seinen Sohn an der Front verloren. Das war ein tragischer Moment, der eine Menge darüber sagt, ob die Ukraine wirklich ein faschistischer Staat ist.

Loslösung aus dem russischen Narrativ

Hrytsaks starkes Buch treibt die Loslösung der ukrainischen Geschichte aus dem so lange dominanten russischen Narrativ weiter voran. Punkt für Punkt widerlegt Hrytsak Putins neoimperiale Argumentation, die stets darauf hinausläuft, dass die Ukraine ein marginales Land ohne eigene Identität sei. Ein gut zu lesendes Buch, dass auch deutschen Lesern die ukrainische Perspektive überzeugend näherbringt.

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Suhrkamp Verlag, 288 Seiten, 20 Euro
ISBN 978-3-518-02982-4

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