Im Januar 1961 begann der Unabhängigkeitskrieg, mit dem sich die Angolaner vom Kolonialismus befreiten. Die Portugiesen dagegen machten sich schuldig und verloren die letzten Zeichen nationaler Größe. Drei von ihnen, die Tochter eines Plantagenbesitzers, ein Offizier und ein Beamter erinnern sich an den Glanz und die Grausamkeiten ihrer kolonialen Existenz.
Es ist alles lange her, was den Menschen, die in diesem Roman ihr Innerstes ausbreiten, durch den Kopf geht. Und doch ist es für sie noch immer präsent wie eine nie vergehende Gegenwart. So lebte die Frau, die an ihre Jugend zurückdenkt, einst als Tochter eines Plantagenbesitzers in Angola, als das Land noch eine portugiesische Kolonie war. Trotzdem ist das Mädchen, das sie einmal war, in ihr noch immer so lebendig wie ein zweites Ich, von dessen Empfindungen nichts verloren gegangen ist, wenn sie zurückblickt.
Es war einmal in Afrika
In Wirklichkeit befindet sich die Frau nicht mehr in Afrika, genauso wenig wie die beiden anderen Protagonisten des neuen Romans von António Lobo Antunes. Die beiden anderen, das sind ein ehemaliger Offizier der portugiesischen Kolonialtruppen und ein Beamter der Kolonialverwaltung. Alle drei sind längst wieder in Portugal, „Am anderen Ufer des Meeres", wie es im Romantitel heißt, nur dass die beiden Ufer in ihren Erinnerungen immer wieder miteinander verschwimmen.
Bis zur sogenannten Nelkenrevolution von 1974 war Portugal eine katholisch-autoritäre Diktatur. Seit den 1960er-Jahren verrannte sich das Regime in lange, qualvolle und hoffnungslose Kriege um den Erhalt seiner afrikanischen Kolonien. Diese Gewaltgeschichte hat Antunes in seinem Erzählwerk schon oft thematisiert und auch in seinem neuen Roman bilden zwei Schlüsselereignisse dieser Zeit den historischen Hintergrund. Das eine ist der brutal niedergeschlagene Landarbeiterstreik in einer angolanischen Baumwollplantage. Das andere ist der dadurch ausgelöste Befreiungskrieg gegen die portugiesische Herrschaft.
Das Murmeln der Erinnerungen
In der Erinnerung der Romanfiguren sind diese historischen Vorgänge nicht als Abfolge von Ereignissen sondern als Gefühlsgeschichte präsent. Da verdichten sich Stolz und Niederlagen, Beschämungen, Verluste und Verklärungen zu einem oft ununterscheidbaren Knäuel von Empfindungen. Ohne Übergang wechselt der Erinnerungsmonolog des Offiziers von der Schilderung sexueller Anzüglichkeiten zum angeberischen Bericht über die Vorbereitung eines Gemetzels.
Im Wechsel der Romankapitel reden die drei Protagonisten weder miteinander, noch zu irgendjemand sonst. Sie reden vor sich hin, gleichsam ins Leere - ein perfektes Bild der Einsamkeit.
Im Bewusstseins- und Redestrom ihrer Monologe vermischen sich einschneidende und alltägliche Momente ihres Lebens, Vergangenheit und Gegenwart unablässig. Vorgefunden hat Antunes diese komplexen emotional geprägten Erzählmuster in seiner viele Jahre ausgeübten Praxis als Psychiater. Seine Figuren beherrschen nicht den Stoff ihres Lebens sondern werden von ihm beherrscht, sie sind ihm ausgeliefert. Dieses Erzählverfahren hat Antunes zu höchster Kunst entwickelt.
Unverkennbar wird das selbstversunkene Monologisieren dieser Menschen angetrieben von Verletzungen und Verlusten aber auch von schal gewordenen Triumphen. Die Grundmelodie des Ganzen wird von Melancholie bestimmt.
Portugiesische Passionsgeschichten
Die Tochter des Plantagenbesitzers ergibt sich dem Zauber ihrer Erinnerungen, weil ihr Leben nie wieder so wurde wie einst in Afrika. Für den Offizier bilden seine militärischen Heldentaten, deren verbrecherischen Anteil er verdrängt, den Höhepunkt seines Lebens. Der Staatsbeamte kann sich nicht lösen von den Resten seines früheren privilegierten kolonialen Daseins, weil ihm das portugiesische Mutterland fremd geworden ist.
Antunes portugiesische Passionsgeschichten handeln von der Gefangenschaft des Menschen in der erdrückenden „Ordnung der Dinge", wie er einen seiner früheren Romane nannte, das heißt in der Ordnung ihrer seelischen Prägungen, ihrer sozialen Stellung und der historischen Verhältnisse. Mit unerbittlicher Konsequenz hat Antunes die Erzähltechnik des Bewusstseinsstroms weiterentwickelt zu einem Medium nationaler Befindlichkeiten und Traumata, die sich aber über Portugal hinaus ebenso gut auf die menschliche Existenz überhaupt beziehen lassen. Den Nobelpreis hat er bislang nicht bekommen. Aber die Anerkennung für sein großartiges Werk, für das auch dieser neue Roman stehen kann, ist ihm gewiss.
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