Buchkritik

Alexander Kluge und Anselm Kiefer – »Klugheit ist die Kunst, unter verschiedenen Umständen getreu zu bleiben«

Stand
Autor/in
Simone Reber

Der Filmemacher und Schriftsteller Alexander Kluge und der Maler und Bildhauer Anselm Kiefer treffen sich zum Dialog über die Kunst, sich selbst treu zu bleiben. Herausgekommen ist viel mehr als ein Buch – eine mediale Neuerfindung.

Weißer Umschlag, grüner Balken – von außen sieht das Buch aus wie ein klassischer Band aus der Bibliothek Suhrkamp. Wenn man sich aber hineinvertieft, ist es viel mehr: Schatzkasten, Zauberkunststück, Überraschungsei. Um den besonderen Charme dieser medialen Neuerfindung zu entdecken, muss man aber erst einmal lesen.

Das Buch ist aus dem Dialog zwischen dem Künstler Anselm Kiefer und dem Filmemacher und Schriftsteller Alexander Kluge entstanden:  

Das ist das Schöne am Dialog, dass er ein ganz anderes Metier hat als ich. Ich habe mein Metier als Autor und als Filmemacher. Er hat ein Metier: er macht feste und recht große Bilder. Er ist aber übrigens ein poeta doctus. D.h. er ist ein gelehrter Maler, der sich auch interessiert. Und das fügen wir zusammen und dabei gibt es Riss-Stellen. Wir überraschen uns gegenseitig. Das ist Dialog.  

Kunst vor dem Hintergrund der deutschen Vergangenheit 

Es geht um Freundschaft, auch wenn das Wort nicht strapaziert wird, es geht um Unterschiede und Berührungspunkte zwischen den Menschen, den Künsten und der Zeit.  

Für mich innerlich war das Thema: Was ist Verlässlichkeit in einer zerrissenen Welt. Das ist eigentlich meine Grundfrage, die mich die ganze Zeit, letztes Jahr, dieses Jahr beschäftigt.  

In Text-Collagen, Assoziationen, Zitaten und gemeinsamen Gesprächen kommentiert Alexander Kluge das Werk von Anselm Kiefer und reflektiert dabei seine eigene künstlerische Position. Im Hintergrund beider Biografien wummert der Krieg. Alexander Kluge ist 1932 in Halberstadt geboren, Anselm Kiefer im März 1945 in einem Luftschutzbunker in Donaueschingen. Als er auf die Welt kam, schreibt Kluge über Kiefer, „waren Süddeutschlands Himmel voller alliierter Flugzeuge“. Flugzeuge werden zu wiederkehrende Motiven in Kiefers Werk. Kluge vergleicht den Maler und Bildhauer mit einer Fledermaus. Die Tiere werfen Töne an die Wände und orientieren sich am Echo.  

Und sie haben ein Ohr, sie sehen mit dem Ohr, das ist etwas sehr Interessantes. Und ich habe manchmal den Eindruck, dass Anselm Kiefer, wenn er malt, Musik macht.  

Künstlerische Gemeinsamkeiten 

Die beiden Künstler verbindet das Prinzip, ihr Material zu zerlegen, zu schichten und zu verdichten. Die abgebildeten Werke von Kiefer bestehen aus Stroh, Gold, Schellack. Er zersetzt seine Bilder durch das Elektrolyse-Verfahren oder begräbt sie unter Blei. Einige, sagt er im Buch, könnten einen Atomkrieg überstehen. Gemeinsam ist den Werken der unbedingte Anspruch an die Kunst. Alexander Kluge schreibt.  

Es müsste möglich sein, dass die Verschränkung von Texten, Bildern, Filmen, Dokumentationen und Poemen: die tausend Splitter und Fragmente, dazu führt, dass Tote auferstehen. 

Das Buch wird zum Kino 

Und dann wandelt sich der Charakter des Buches: Kleine QR-Codes erscheinen auf den Seiten. Wenn man sie mit dem Handy scannt, wird das eigene Smartphone zum Taschenkino. Kurze Filme öffnen sich, nur eine Minute lang, wie die ersten Filme in der Geschichte des Kinos. Alexander Kluge kreiert neue Bilder auf den übermalten Rändern der Leinwände von Anselm Kiefer, die dieser Elefantenhaut nennt:  

Er ist wie ein Alchimist tätig und schafft auf diese Weise unbekannte Materialien. Wenn ich sie als Hintergrund nehme für mein filmisches Emblem, dann ist das so, als ob eine Felsmalerei entsteht.  

„Klugheit ist die Kunst, unter verschiedenen Umständen getreu zu bleiben“ – der unscheinbare Band birgt mehrere Stunden Film. Da sind zwei Systemsprenger am Werk. Getreu bleiben sich Anselm Kiefer und Alexander Kluge, indem sie immer wieder die Grenzen ihrer Kunst überschreiten.  

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Autor/in
Simone Reber