Buchkritik

Rüdiger Safranski – Kafka. Um sein Leben schreiben

Stand
Autor/in
Alexander Wasner

Vor hundert Jahren, am 3. Juni 1924 starb Franz Kafka, einer der wichtigsten Autoren des 20. Jahrhunderts. Bis heute haben seine Texte nichts von ihrer Faszinationskraft verloren. In beeindruckenden und nicht leicht zu vergessenden Bildern schildert er das Erleben der Menschen in der modernen Gesellschaft mit ihrer Absurdität und Undurchschaubarkeit: Das Adjektiv „kafkaesk“ hat sogar in die deutsche Sprache Eingang gefunden. Der Biograph Rüdiger Safranski schildert Kafkas Leben ganz aus seinem Schreiben heraus und bietet eine gut lesbare Kafka-Biographie samt Werkdeutung für alle.

„Um sein Leben schreiben“ hat Safranski sein Buch genannt.  Und gleich am Anfang erklärt er, was das bedeutet.

Dieses Buch verfolgt eine einzige Spur im Leben Franz Kafkas, es ist die eigentlich naheliegende: Das Schreiben selbst und sein Kampf darum. Er selbst sagte von sich: „Ich habe kein litterarisches Interesse sondern bestehe aus Litteratur, ich bin nichts anderes und kann nichts anderes sein.“ In den ekstatischen Zuständen des Schreibens fühlte sich Kafka erst wirklich lebendig.

Damit hat Safranski auch noch ein zweites Thema gefunden, an dem er sich abarbeitet: Kafka war mit dem Schreiben eng verbunden, entsprechend passen Frauen nicht in sein Leben, aber sie sind trotzdem immer da, die Schwester, aber auch die Freundinnen, Gefährtinnen, Verlobten, Geliebten, Felice Bauer, Grete Bloch, Julie Wohryzek, am Schluss Dora Diamant. An diesen Stationen macht Safranski auch die jeweiligen Schriften fest. Es ist ihm wichtiger als die Arbeit in der Versicherung, wichtiger als die Ausflüge und als die Zeitgeschichte und das wirkt plausibel.

Kritik des modernen Industriekapitalismus

Natürlich ist dadurch Felice Bauer in der Pole Position: Zweimal verlobt sich Kafka mit ihr, zweimal trennt er sich wieder mit Verweis auf seine literarische Existenz. Ihr liest Kafka die in einer Nacht herunter geschriebene Erzählung „Das Urteil“ vor, später „Die Verwandlung“, und das erste große Romanfragment, nämlich den „Verschollenen". Safranski liest diesen ersten Roman Kafkas recht traditionell:

„Kafka, darin sind sich alle Interpreten einig, zeigt sich hier als Kritiker des modernen Industriekapitalismus in seiner fortgeschrittenen amerikanischen Variante, die er allerdings nur aus Büchern kannte.“

Ob das so eindeutig ist, kann man hinterfragen – Karl Rossmann, der Held, bewundert Amerika, und die Kritik, um die es hier geht, ist sehr abstrakt. Eigentlich kommt im Roman nur das Gefühl des persönlichen Ungenügens heraus: Karl Rossmann scheitert am laufenden Band und fühlt sich fremd, Scheitern und Fremdsein sind zwei Empfindungen, die schließlich alle Kafka(?)-Helden mit sich herumtragen. Aber, das ist vielleicht der Knackpunkt bei Safranski: Man merkt die Selbstsicherheit Safranskis und man spürt, wie weit weg die vom vorsichtig tastenden Schreibstil Kafkas ist.

Nichts wird ausgespart, aber alles diskret behandelt

Aber vielleicht ist das ja auch nur wieder ein Zeugnis dafür, wie unterschiedlich man Kafkas Werk lesen kann. Safranski liest sehr sorgfältig entlang der Biografie ausgewählte Erzählungen und die Romane, und wo es sich anbietet, nähert er sich den großen Themen: Religion, Schuldgefühle, der Vater, die Sexualität. Es ist ein Kafka mit allem für alle: Biographie, Essays, Werkmonographie - alles verbindet  der Bestseller-Autor Safranski elegant in seiner Kafka-Deutung.

Er ist (es gab mal ein Projekt von Wolfgang Herrndorf mit dem Namen) dabei ein außerordentlich „höflicher Paparazzi“: nichts wird ausgespart, aber alles wird diskret behandelt. Das ist angenehm. Man erfährt sogar von der Möglichkeit, dass Kafka Vater eines Kindes war,

Grete, die mit Felice befreundet blieb, wird viele Jahre später, 1940, in einem Brief an einen Freund berichten, dass sie im Spätsommer 1914 einen Sohn zur Welt gebracht habe. Ihre Andeutungen über dessen Vater haben die Spekulationen angeregt, es könnte sich dabei um Kafka handeln. Genaues weiß man nicht, nur dass dieser Sohn im Alter von sieben Jahren 1921 starb. Es gibt keinen einzigen Hinweis, dass Kafka selbst davon etwas gewusst hat.

Josefine, die seltsame Pfeif-Künstlerin

Der höfliche Paparazzo macht allerdings auch etwas nicht, und auch das macht das Buch angenehm: Kafka ist in den sozialen Medien ein Superstar, es gibt hunderte von Tiktok-Gruppen und tausende von Beiträgen in seinem Namen. Seine Wirkungsgeschichte ist weltumspannend. Ein seltsamer Widerspruch zum stillen Werk. Safranski lässt diesen Trubel nach dem Tod weg, beschreibt nur, warum Max Brod sich über Kafkas Bitte hinwegsetzt, die unveröffentlichten Manuskripte und Briefe zu verbrennen. Passenderweise endet Safranski mit der letzten Erzählung vor dem frühen Tod Kafkas am 3.6.1924, mit Josefine, der seltsamen Pfeif-Künstlerin:

Es gibt da ein fundamentales Missverständnis zwischen Josefine und ihrem Volk. Josefine beklagt sich, sie würde vom Volk nicht verstanden. Sie denkt, was sie pfeift, sei das Entscheidende und das Volk würde das nicht verstehen. Sie selbst aber versteht nicht, was das Volk an ihr zu schätzen weiß. Und das ist eben nicht das Pfeifen selbst, sondern die Stille, die sich darum herum ausbreitet. Das Wunder ist, dass diese Stille es dem Volk erlaubt, sich selbst als Gemeinschaft zu erleben. …  Was bleibt, ist eine Erinnerung an ihr Pfeifen. Doch, so heißt es am Schluss, war ihr wirkliches Pfeifen nennenswert lauter und lebendiger, als die Erinnerung daran sein wird?

Das Pfeifen war leise, aber es ist bis heute sehr markant. Safranski lässt sich nicht ein auf die Frage, was die Erinnerung an Kafka heute so laut und lebendig sein lässt, was Kafka so außerordentlich erfolgreich macht. Sein Buch ist streng fokussiert auf Franz Kafka und sein Werk. Zu allem anderen muss man selbst in die Werke hineinschauen und sich fragen: Was macht das mit mir, dem Leser? Man kann Rüdiger Safranski für dieses genaue, zurückhaltende Buch dankbar sein.

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Alexander Wasner diskutiert mit
Prof. Dr. Vivian Liska, Literaturwissenschaftlerin, Antwerpen und Jerusalem
Prof. Dr. Roland Reuß, Herausgeber der historisch-kritischen Ausgabe der Schriften Franz Kafkas
Dr. Yoko Tawada, deutsch-japanische Schriftstellerin

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