Vor hundert Jahren, am 3. Juni 1924 starb Franz Kafka, einer der wichtigsten Autoren des 20. Jahrhunderts. Bis heute haben seine Texte nichts von ihrer Faszinationskraft verloren. In beeindruckenden und nicht leicht zu vergessenden Bildern schildert er das Erleben der Menschen in der modernen Gesellschaft mit ihrer Absurdität und Undurchschaubarkeit: Das Adjektiv „kafkaesk“ hat sogar in die deutsche Sprache Eingang gefunden. Der Biograph Rüdiger Safranski schildert Kafkas Leben ganz aus seinem Schreiben heraus und bietet eine gut lesbare Kafka-Biographie samt Werkdeutung für alle.
„Um sein Leben schreiben“ hat Safranski sein Buch genannt. Und gleich am Anfang erklärt er, was das bedeutet.
Damit hat Safranski auch noch ein zweites Thema gefunden, an dem er sich abarbeitet: Kafka war mit dem Schreiben eng verbunden, entsprechend passen Frauen nicht in sein Leben, aber sie sind trotzdem immer da, die Schwester, aber auch die Freundinnen, Gefährtinnen, Verlobten, Geliebten, Felice Bauer, Grete Bloch, Julie Wohryzek, am Schluss Dora Diamant. An diesen Stationen macht Safranski auch die jeweiligen Schriften fest. Es ist ihm wichtiger als die Arbeit in der Versicherung, wichtiger als die Ausflüge und als die Zeitgeschichte und das wirkt plausibel.
Kritik des modernen Industriekapitalismus
Natürlich ist dadurch Felice Bauer in der Pole Position: Zweimal verlobt sich Kafka mit ihr, zweimal trennt er sich wieder mit Verweis auf seine literarische Existenz. Ihr liest Kafka die in einer Nacht herunter geschriebene Erzählung „Das Urteil“ vor, später „Die Verwandlung“, und das erste große Romanfragment, nämlich den „Verschollenen". Safranski liest diesen ersten Roman Kafkas recht traditionell:
Ob das so eindeutig ist, kann man hinterfragen – Karl Rossmann, der Held, bewundert Amerika, und die Kritik, um die es hier geht, ist sehr abstrakt. Eigentlich kommt im Roman nur das Gefühl des persönlichen Ungenügens heraus: Karl Rossmann scheitert am laufenden Band und fühlt sich fremd, Scheitern und Fremdsein sind zwei Empfindungen, die schließlich alle Kafka(?)-Helden mit sich herumtragen. Aber, das ist vielleicht der Knackpunkt bei Safranski: Man merkt die Selbstsicherheit Safranskis und man spürt, wie weit weg die vom vorsichtig tastenden Schreibstil Kafkas ist.
Nichts wird ausgespart, aber alles diskret behandelt
Aber vielleicht ist das ja auch nur wieder ein Zeugnis dafür, wie unterschiedlich man Kafkas Werk lesen kann. Safranski liest sehr sorgfältig entlang der Biografie ausgewählte Erzählungen und die Romane, und wo es sich anbietet, nähert er sich den großen Themen: Religion, Schuldgefühle, der Vater, die Sexualität. Es ist ein Kafka mit allem für alle: Biographie, Essays, Werkmonographie - alles verbindet der Bestseller-Autor Safranski elegant in seiner Kafka-Deutung.
Er ist (es gab mal ein Projekt von Wolfgang Herrndorf mit dem Namen) dabei ein außerordentlich „höflicher Paparazzi“: nichts wird ausgespart, aber alles wird diskret behandelt. Das ist angenehm. Man erfährt sogar von der Möglichkeit, dass Kafka Vater eines Kindes war,
Josefine, die seltsame Pfeif-Künstlerin
Der höfliche Paparazzo macht allerdings auch etwas nicht, und auch das macht das Buch angenehm: Kafka ist in den sozialen Medien ein Superstar, es gibt hunderte von Tiktok-Gruppen und tausende von Beiträgen in seinem Namen. Seine Wirkungsgeschichte ist weltumspannend. Ein seltsamer Widerspruch zum stillen Werk. Safranski lässt diesen Trubel nach dem Tod weg, beschreibt nur, warum Max Brod sich über Kafkas Bitte hinwegsetzt, die unveröffentlichten Manuskripte und Briefe zu verbrennen. Passenderweise endet Safranski mit der letzten Erzählung vor dem frühen Tod Kafkas am 3.6.1924, mit Josefine, der seltsamen Pfeif-Künstlerin:
Das Pfeifen war leise, aber es ist bis heute sehr markant. Safranski lässt sich nicht ein auf die Frage, was die Erinnerung an Kafka heute so laut und lebendig sein lässt, was Kafka so außerordentlich erfolgreich macht. Sein Buch ist streng fokussiert auf Franz Kafka und sein Werk. Zu allem anderen muss man selbst in die Werke hineinschauen und sich fragen: Was macht das mit mir, dem Leser? Man kann Rüdiger Safranski für dieses genaue, zurückhaltende Buch dankbar sein.
Schecks Bücher | Folge 63 Franz Kafka: Die Tagebücher 1910- 1923
Lange hat Denis Scheck Franz Kafka gehasst. Dann liest er dessen Tagebücher und begegnet darin dem lebendigen und lachenden Kafka: Der Beginn einer wunderbaren Leserfreundschaft.
Forum Leben im Labyrinth – Wie wurde Franz Kafka zum Weltliteraten?
Alexander Wasner diskutiert mit
Prof. Dr. Vivian Liska, Literaturwissenschaftlerin, Antwerpen und Jerusalem
Prof. Dr. Roland Reuß, Herausgeber der historisch-kritischen Ausgabe der Schriften Franz Kafkas
Dr. Yoko Tawada, deutsch-japanische Schriftstellerin
Mehr zu Franz Kafka
Spinatpudding und Grünkernschnitten Franz Kafka und das Essen: Ein Hungerkünstler?
Franz Kafka hatte einige eigensinnige Essgewohnheiten. SWR Kultur Literaturchef Frank Hertweck weiß: Das Essen spielt auch eine Rolle in Kafkas literarischem Werk.
lesenswert Feature Kafka-Kult – Das erstaunliche Nachleben des Franz K.
Kafka ist ein TikTok-Star mit über einer Milliarde Klicks, sein melancholisches Portrait prangt auf T-Shirts, Kaffeetassen und Krawatten. Kafkas Werk wird mittlerweile auf der ganzen Welt adaptiert, in allen Künsten. Nur wenige Autoren besitzen eine solche internationale Wirkung wie er.