In seiner Schillerrede im Deutschen Literaturarchiv Marbach hat der russische Autor Michail Schischkin auf die Gefahren aufmerksam gemacht, die mit dem Missbrauch von Sprache, Literatur und Ideen verbunden sind.
Nicht Schischkin emigrierte, sein Land tat es
Seit 1995 lebt Michail Schischkin in der Schweiz. Doch sein Aufbruch damals war kein Aufbruch ins Exil. Er sei nicht aus politischen Gründen gegangen, betont er: „Ich emigrierte nicht. Mein Land emigrierte aus dem 21. Jahrhundert ins Mittelalter.“
Und deswegen zog Schischkin, lange Zeit literarisches Aushängeschild Russlands, 2013 in einem Offenen Brief die Reißleine: Er bezeichnete die Regierung in Moskau als korrupt und kriminell – eine Verbrecherhierarchie. Seitdem verlaufe die Frontlinie auch bei ihm:
„Ich bekomme auch Drohungen. Ich habe eine Email aus Deutschland bekommen auf russisch: Schischkin ist ein Verräter. Tod den Verrätern! Aber was soll ich tun? Sol ich schweigen? Dann ist das das, was das Regime von mir erwartet. Und was ist dann der Sinn meines Lebens?“
Eine Sprache der Mörder
Seine Mission hat Schischkin längst gefunden und auch mit nach Marbach ins Deutsche Literaturarchiv gebracht. Ihm geht es um Rehabilitation. Der Krieg habe aus seiner Sprache eine Sprache der Mörder gemacht:
„Die russische Literatur, die russische Kultur, gehört nicht dem Diktator, sondern der Weltkultur. Das Regime hat die russische Sprache als Geisel genommen und man muss etwas dagegen tun. Und ich versuche die Würde der russischen Sprache zu verteidigen.“
Und das tut er auf eindrückliche Weise. „Schiller wurde am 10. November 1898 in Mariental geboren“, beginnt Michail Schischkin seine einstündige Schillerrede und schon erhebt sich unter manchen der geladenen Gäste ein Raunen.
Ein anderer Schiller
Schischkins Schiller heißt mit Vornamen Franz, erfahren wir kurz darauf. Ein Literaturprofessor aus Moskau, der seinem Namensvetter Friedrich Schiller eine eigene Biographie widmen wollte.
Doch dann kamen ihm Stalin und der Krieg dazwischen. Als Wolgadeutscher wurde er zum Volksverräter abgestempelt, der Kollaboration mit Nazideutschland beschuldigt und zu Lagerhaft verurteilt.
Seiner Familie entrissen, entwürdigt, krank, sollte dieser Schiller unter unvorstellbaren Bedingungen an dem Projekt seines Lebens, an seiner Schillerbiographie, festhalten, berichtet Michail Schischkin und setzt dann so nach:
„Es stellt sich die Frage: Hat das freiheitsliebende Pathos Friedrich Schillers dazu beigetragen, den Gulag aufzubauen oder den Gulag zu überleben?“
Schischkins Beschreibungen führen in die Gegenwart
Schiller habe das russische Herz als Rebell und Freiheitskämpfer erobert. Seine Inszenierungen wurden zum Akt des Widerstandes und zum Fanal einer Revolution, die in eine sozialistische Sowjetrepublik führen sollte.
Doch mit der Verwandlung der Sowjetrepublik in eine neue Diktatur seien Schillers „Tyrannenkampf“-Stücke aus dem Repertoire verschwunden. Und so lautet denn Schischkins Antwort auf seine eigene Frage:
„Die missbrauchten Werke Schillers haben geholfen, den Gulag aufzubauen und Schillers Werke haben geholfen, den Gulag zu überleben.“
Schischkins Beschreibungen, wie Ideen, Literatur und Sprache instrumentalisiert, missbraucht werden, führen zwangsläufig in die Gegenwart.
Eine Stimme für Russischschreibende
Der Überfall auf die Ukraine sei auch mit dem Verweis auf Volk und Heimat geheiligt worden, mit der Verteidigung der Freiheit.
Doch die Gewalt des Regimes werde unausweichlich zur Entstehung einer anderen, radikalen Opposition führen, die bereit sei zu den Waffen zu greifen, meint Michail Schischkin.
„Keine Diktatur, kein Regime, kein Terror könnte den Grundgedanken von Freiheit und Menschenwürde eliminieren, endgültig austilgen, begraben. Diese Ideen werden mit jeder Generation neu auferstehen und zum Kampf für Freiheit und Menschenwürde aufrufen.“
Ein Kampf, dessen Ausgang nicht zuletzt von den Europäern des 21. Jahrhunderts abhängen werde, schloss der russische Schriftsteller seine Schillerrede in Marbach.
Michail Schischkin führt diesen Kampf auf seine Weise. Er hat in diesem Jahr einen Literaturpreis ins Leben, der russisch schreibenden Autorinnen und Autoren – egal wo auf der Welt – eine Stimme geben will. Eine freie Stimme.
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