Eine Kindheit im neunzehnten Jahrhundert beschreibt Molly MacCarthy in ihrer Erzählung „Kleine Fliegen der Gewissheit“, die 1924 erstmals erschien.
Eine weitläufige Zimmerflucht als Zuhause, der Blick aus dem Kinderzimmer in einen üppigen, gepflegten Garten, Privatunterricht mit Hauslehrern und berühmte Autoren zum Abendessen. Es ist eine ferne, faszinierende Welt, in die Molly MacCarthy uns in ihren Kindheitserinnerungen „Kleine Fliegen der Gewissheit“ mitnimmt.
Ironische Distanz zur eigenen Familie
Kindheitserinnerungen bergen die Gefahr der nostalgischen Verklärung. Dass Molly MacCarthy nicht in diese Falle tappt, macht „Eine Kindheit im neunzehnten Jahrhundert“ – so der Originaltitel der autofiktionalen Erzählung – umso lesenswerter. Immer ist das Bemühen der Autorin um Ehrlichkeit wahrnehmbar, was sich oft auch in einem Ton ironischer Distanz gegenüber der eigenen Familie und deren Werten niederschlägt.
Molly, die eigentlich Mary heißt, ist das zweitjüngste von acht Kindern des Vize-Schuldirektors Francis Warre-Cornish und seiner Frau Blanche. Die Autorin ist zwölf Jahre alt, als ihr Vater seine Stelle in Eton antritt und die Familie in das weiträumige Tudor-Haus neben dem Eliteinternat zieht.
Mollys Familie gehört zum gehobenen Bildungsbürgertum. Um die Aufmerksamkeit der zerstreuten und exzentrischen Mutter kämpft die Tochter oft vergeblich. Häusliche Theateraufführungen, Vorlesestunden und Klavierkonzerte machen für MacCarthy auch im Rückblick den Mangel an mütterlicher Zuwendung nicht wett. Völlig unerwartet entscheidet die Mutter überdies, die Tochter in ein katholisches Internat zu geben.
Kaum Berufsperspektiven trotz Schulabschluss
Trotz Heimweh, Einsamkeit und rigiden religiösen Geboten versucht das Mädchen, die Beweggründe der mütterlichen Entscheidung nachzuvollziehen. Diese Balance zwischen Fakten und subjektivem Rückblick zeichnet das Buch aus, das einen höheren literarischen Anspruch als ein Memoir hat und von der Ich-Perspektive bisweilen auch in die dritte Person wechselt.
Nach ihrem Schulabschluss sieht sich das junge Mädchen allerdings mit einem unerwarteten Problem konfrontiert. Auf der Suche nach einer Zukunftsperspektive geht sie im „Jahrbuch der englischen Frauen“ die Liste mit den Berufen durch.
Mollys Berufssuche wird ebenso in Ehe und Mutterschaft enden wie die ihrer Schwestern. Vorher dürfen die jungen Mädchen in London noch ein wenig ihre Freiheit auf sittsamen Tanztees genießen.
Die zahlreichen Anmerkungen des Herausgebers und Übersetzers Tobias Schwartz machen den beeindruckenden Bildungshintergrund deutlich, der für junge Mädchen der britischen Upperclass selbstverständlich war.
Als Queen Victoria, Königin von Großbritannien und Kaiserin von Indien, 1901 stirbt, endet eine Epoche und mit ihr auch die Kindheit und Jugend der 19-jährigen Molly MacCarthy. Das sachkundige Vorwort bettet die Erzählung in den historischen Kontext der berühmten Bloomsbury Group ein, deren Mitglied Molly MacCarthy war.
„Mit Neid und Entzücken“ habe sie Mollys Kindheitserinnerungen gelesen, schreibt Virginia Woolf 1924 in einem Brief an ihre Cousine. Auch hundert Jahre nach der Erstveröffentlichung bereiten die anrührenden, nachdenklichen und amüsanten Kindheitserinnerungen große Lesefreude.
Mehr Literatur über die englische upper class im 20. Jahrhundert
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In "Bevor der letzte Zug fährt" wirft Penelope Mortimer (1918-1999) einen schonungslosen Blick auf Ehe und Familienleben in den Landhäusern der britischen upper class in den 1950er Jahren. Am Beispiel der Abtreibungsfrage zeigt sie darüber hinaus, welche engen Fesseln weibliche Lebensentwürfe beschränken.
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