Zum Welttag des Briefeschreibens am 1. September

Vom Brief zum Roman: Goethe, Werther und die Post

Stand
Autor/in
Frank Hertweck
Nina Wolf

Das Medium „Brief“ schlug im 18. Jahrhundert in der Literatur hohe Wellen. Mitverantwortlich: Johann Wolfgang von Goethe. Heute ist die Form des Briefromans nicht mehr wegzudenken.

„Sie haben Post!“

Juno, die Protagonistin in Martina Hefters Roman „Hey guten Morgen, wie geht es dir?“, der auf der Longlist des Deutschen Buchpreises steht, chattet mit einem Love Scammer. Im Austausch via Direct Messages auf Instagram, kurz: DMs, entstehen klangvolle Gedichte: DMs als poetologisches Rahmung.

Bestsellerautorin Juli Zeh und Simon Urban lassen die Hauptfiguren in ihrem schriftstellerischen Gemeinschaftsprojekt „Zwischen Welten“ E-Mails und WhatsApp-Nachrichten austauschen.

Zwei mit Briefen gefüllte Kisten der deutschen Post
Aus Kommunikation wird Literatur.

Diese Romane haben ihren Ursprung an derselben Quelle der Inspiration. Sie greifen zurück auf eine literarische Gattung, die im 18. Jahrhundert hohe Wellen schlug: der Briefroman.

Literatur hat Bedingungen

Literatur hat eben ihre Bedingungen. Wenn alle Welt E-Mails schreibt, dann braucht man sich auch nicht zu wundern, wenn E-Mails in Romanen auftauchen oder wenn belletristische Texte aus E-Mails bestehen. Diese Bezüge sind nichts Neues.

In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entstand, was man schon damals „Briefsucht“ nannte – mit der pädagogischen Sorge, dass sie Überhand nehmen, die Jugend irre machen und den Kontakt zur wahren Wirklichkeit mehr als gefährden könnte.

Es gab Lehrbücher, wie Briefe zu schreiben wären, sogenannte „Briefsteller“. Der vielleicht berühmteste hieß „Briefe, nebst einer praktischen Abhandlung von dem guten Geschmack in Briefen", der Autor: Christian Fürchtegott Gellert.

Die Entstehung einer Gefühlsgemeinschaft

Mit Briefen konnten schöne Seelen miteinander kommunizieren und über ihr Gefühlsleben reden. Das war damals neu, einfach nur reden oder schreiben. Worüber? Über alles, über dich, mich, uns. Keine wissenschaftlichen Abhandlungen mehr, keine Zirkulare der Gelehrtenrepublik, sondern eine Gefühlsgemeinschaft war am Entstehen.

Aber Gellert war nur der Auftakt, von den Fesseln des guten Geschmacks hat man sich – im jugendlichen Sturm und Drang – schnell befreit. Das Praktische: Briefe konnten weitergereicht, Briefe über Briefe geschrieben, Briefe in Briefe eingelegt werden – so nebenbei, auch um Porto zu sparen. Das war nicht ganz unwichtig. Und da das Porto für Drucksachen günstiger war als das für Manuskripte, wundert es wenig, wenn Briefe zusammengeführt gedruckt wurden.

Goethe selbst hat die technischen Bedingungen in „Dichtung und Wahrheit“ präzise beschrieben: „(...) denn es war überhaupt eine so allgemeine Offenherzigkeit unter den Menschen, dass man mit keinem einzelnen sprechen, oder an ihn schreiben konnte, ohne es zugleich als an mehrere gerichtet zu betrachten. Man spähte sein eigenes Herz aus und das Herz der andern, und bei der Gleichgültigkeit der Regierungen gegenüber einer solchen Mitteilung, bei der durchgreifenden Schnelligkeit der Taxischen Posten, der Sicherheit des Siegels, dem leidlichen Porto, griff dieser sittliche und literarische Verkehr bald weiter um sich.“

„Die Leiden des jungen Werther": Ein Briefroman, der gar keiner ist

Und kein Wunder, dass das Medium „Brief“ als Literatur wie ein Donnerschlag in die Öffentlichkeit einschlug: 1774 erschien Goethes „Die Leiden des jungen Werther“ – sozusagen DER deutsche Briefroman. Bizarrerweise bekommen wir gar keinen Briefwechsel zu lesen, sondern ganz einseitig nur die Dokumente des jungen W.

Damit ist zweierlei gesagt: Wir haben es eher mit einem Bekenntnis zu tun, mit einer Art Tagebuch, und da die Kommunikation zwischen zweien nicht im Roman stattfindet, entsteht er anderswo, nämlich zwischen Autor und Leser, zwischen Autor und Leserin. Romane sind wie Briefe an Leser, hat Jean Paul einmal gesagt, und der „Werther“ ist das perfekte Beispiel.

Werther aus Goethes „Die Leiden des jungen Werther“ sitzt mit Pistole in der Hand am Schreibtisch
Goethes Werk „Die Leiden des jungen Werther“ löste im 18. Jahrhundert ein „Werther-Fieber“ aus und gilt bis heute als einer der bekanntesten Briefromane.

Und Goethe? Der erhielt ein besonderes Privileg, die Fürsten von Thurn und Taxis erlaubten ihm, seine Briefe im großen Thurn & Taxis-Reich nicht nur portofrei versenden zu dürfen, sondern auch diejenigen portofrei zu stellen, die ihm ihre Briefe schickten.

A star is born, könnte man sagen, jederzeit und von überall erreichbar. Wie eine Spinne im Netz einer großen Kommunikationsgemeinschaft.

Und heute?

Die Thurn und Taxis-Flatrate machte Goethe sozusagen zum ersten „Influencer“ des 18. Jahrhunderts. Und so, wie die technischen und gesellschaftlichen Entwicklungen jener Zeit ihre Rolle in der Entstehung des Briefromans spielten, taten sie es auch im weiteren Verlauf der Geschichte.

Die digitale Kommunikationskultur revitalisierte den Briefroman. Kamen E-Mails, kamen E-Mail-Romane. Technische Bedingungen, die eine neue Art der zwischenmenschlichen Kommunikation hervorbringen, aus denen wiederum neue literarische Formen entstehen. Wirklichkeit schafft Literatur.

Das digitale Alltagsleben hält Einzug in die Literatur. Auch in vielen zeitgenössischen Romanen spielt die Kommunikation in den Sozialen Medien, in DMs, in Kommentaren, im Netz so ihre Rolle. Autoren und Autorinnen bedienen sich an der Sprache der Online-Welten. Oder setzen sich literarisch mit neuen technischen Entwicklungen von Kommunikationsformen auseinander, Stichwort: Künstliche Intelligenz.

Und nun? Was kommt als nächstes? Der große Emoji-Bildungsroman? Vielleicht nicht. Denn um große, literarische Geschichten zu erzählen, wird eines von Goethes Arbeitswerkzeugen immer noch gebraucht, ganz unabhängig von neuen Technologien: die Sprache – damals wie heute.

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