Geschlechterkampf als famoser Mail-Roman: In „Liebes Arschloch“, dem neuen Bestseller der französischen Star-Autorin Virginie Despentes, fetzen sich eine Schauspielerin und ein Schriftsteller über Reizthemen wie Feminismus, MeToo und soziale Medien – und verfolgen ein großes gemeinsames Ziel: Endlich nüchtern werden.
Eine Brieffreundschaft als Köder
Sie war das Idol seiner Jugend, habe eine halbe Generation junger Franzosen zum Träumen gebracht. Und was sei aus ihr geworden? Eine verlebte „Schlampe“, mit nichts als Feminismus im Kopf. So fies kommentiert der Schriftsteller Oscar Jayack die Entwicklungskurve der fünfzigjährigen Schauspielerin Rebecca Latté. Es ist eine Beleidigung – und zugleich ein Lockruf. Tatsächlich meldet sich Rebecca mit einer Mail bei Oscar, die mit „Liebes Arschloch“ beginnt und so endet:
„Ich hoffe jetzt nur, dass deine Kinder von einem Lastwagen überfahren werden und du ihren Todeskampf mitansehen musst, und ihnen die Augen aus den Höhlen spritzen und ihre Schmerzensschreie dich jeden Abend verfolgen.“
Oscar hat sein Ziel erreicht. Mit erstaunlich freundlichen Worten beantwortet er die Verwünschungen, gibt sich als jüngerer Bruder einer Jugendfreundin der Schauspielerin zu erkennen, als Schriftsteller, der sie immer verehrt habe und gerne einen Theatermonolog für sie schreiben würde. Es entspinnt sich ein lebhafter Mail-Wechsel, bei dem sich auch Rebeccas Ton bald abmildert und vertraulicher wird. Dann kommt Corona, die Ausgangssperre, und Oscar und Rebecca sind ziemlich beste Brieffreunde.
Oscar befindet sich mitten in einem Metoo-Skandal
Oscar hat allerdings ein Problem. Seine ehemalige Verlagsassistentin Zoé Katana, inzwischen eine Influencerin mit hunderttausend Followern, hat einen MeToo-Skandal gegen ihn losgetreten. Der Shitstorm tobt. Zoés Posts unterbrechen bisweilen den Mailwechsel. Sie klagt über Oscars hartnäckige Zudringlichkeit.
„Er klopfte an die Tür meines Hotelzimmers, und ich konnte vor Angst nicht mehr schlafen. Bevor ich zur Arbeit ging, musste ich kotzen, aber ich trat lächelnd aus dem Haus, denn hätte ich geheult, wäre ich unprofessionell gewesen, eine, die sich gehenlässt, es war wie ein Albtraum, wenn du losschreien willst, aber kein Ton kommt."
„Gut gegen Böse“ - das wäre zu einfach
Für Virginie Despentes war die männliche Hauptfigur von „Liebes Arschloch“ zweifellos die größte Herausforderung. Denn in einem feministischen Pamphlet kann man den Mann unter Dauerbeschuss nehmen, in einem Roman jedoch, der erzählerische Qualitäten haben soll, muss man den Mann auch mal zurückschießen lassen. Vor allem aber ist es die Kunst von „Liebes Arschloch“, die plakativen Antithesen durch psychologisches Erzählen aufzulösen. Despentes setzt zunehmend auf Zwischentöne und zeigt die Menschen in ihrer Komplexität.
Schon in seinen ersten, noch defensiven Bemerkungen zu den Belästigungsvorwürfen gibt Oscar eigene Verletzungen und Demütigungen zu erkennen.
„Zoé überbrachte mir alle guten Nachrichten. Sie rief ständig an. Sie wartete im Taxi vor meinem Haus und redete stundenlang mit mir über mich, das ist ihre Aufgabe, und ich habe da was durcheinander gebracht. Ich habe mich verliebt und nicht kapiert, dass ihre Fürsorglichkeit und der Eindruck, dass alles, was mich betraf, sie faszinierte, zu ihrem Job gehörten… Ich bin ein armer Kerl, der beruflich Erfolg hat, mit dem die Frauen aber nicht ins Bett steigen wollen."
Bald erweist sich Oscar als fabelhafter Analytiker von Gefühlsmiseren. Rebecca ist zunehmend beeindruckt und lässt sich ins Mail-Gespräch ziehen.
Beide haben Erfahrungen mit Drogen - und bestärken sich zunächst darin
Verbunden sind die beiden durch ähnliche Jugenderfahrungen in eher prekären sozialen Verhältnissen, einen zynischen Blick auf den Kulturbetrieb und vor allem: durch vielfältigen Substanzenmissbrauch. Rebecca hat sich zwanzig Jahre mit Heroin „weggeballert“, Oscar ist seit seiner Jugend quasi nicht mehr richtig nüchtern gewesen, hat aber auch alles Mögliche geraucht und geschluckt.
Das Drogenthema gibt dem Roman die Handlungskurve und das gewisse melodramatische Potential. Anfangs versichern sich Oscar und Rebecca noch gegenseitig, wie sehr sie von ihrem Stoff profitieren. Rebecca lobt das Heroin als Schlankmacher, Oscar hat mit dem Alkohol seine schüchterne, trübsinnige Wesensart überwunden:
„Ziemlich schnell habe ich kapiert, dass du, sobald du mit dem Trinken aufhörst, alles verlierst. Du trauerst um die bessere Ausgabe deiner selbst. Mich macht Alkohol nicht sentimental oder streitsüchtig. Er entspannt mich, ich werde witzig…"
So redet die Sucht. Dann aber gehen Rebecca und Oscar unabhängig voneinander zu den Treffen der Selbsthilfegemeinschaft Narcotics Anonymous. Anfangs skeptisch, dann aber immer überzeugter. Der Roman schildert eine doppelte Heilung – die beiden wachsen langsam hinein in ein Leben ohne Heroin und Alkohol. Das ist anrührend beschrieben. Und man muss schon über den kratzigen Ton von Virginie Despentes verfügen, damit ein solch segensreicher Plot nicht ins Heilsarmeemäßige verrutscht, zumal sich Oscar am Ende auch noch bitter dafür anklagt, dass er Zoé seine „unersättliche Begierde“ aufzuzwingen versuchte, ohne ihr „Unbehagen“ im angesäuselten Zustand auch nur zu bemerken.
Unterhaltsame Alltagsphilosophie im Gewand vetraulicher Briefe
Der Reiz der aktuell ja auch von Juli Zeh und Simon Urban gewählten Briefroman-Form liegt darin, dass sich Erzählung und Meinung gut mischen lassen. Das passt in eine Zeit der viel beschworenen gesellschaftlichen Spaltung, eine Zeit mit erhöhtem Aussprachebedarf, in der zugleich viel über Redeverbote geklagt wird. Über mehrere hundert Seiten hat es allerdings auch einen Ermüdungseffekt. Als wäre es ein lang geflochtener Zopf aus lauter Kolumnen.
Dennoch macht es Spaß, die oft ziemlich drastischen und witzigen Tiraden von Oscar und Rebecca zu lesen. Wie sich da zwei Menschen durchs widrige Leben schlagen, wie sie an ihren Beziehungen scheitern, mit den Zumutungen des Älterwerdens hadern, die sozialen Medien verfluchen – das ist beste alltagsphilosophische Unterhaltung.
Virginie Despentes Das Leben des Vernon Subutex 3
Virginie Despentes, die Autorin des feministischen Pornoschockers „Baise-moi“, beschreibt, wie die Zersplitterung der französischen Gesellschaft nach den Anschlägen gegen Charlie Hebdo und das Bataclan in Paris in digitalen Chatrooms und sozialen Medien Fahrt aufnimmt. Niemand scheint etwas dagegen tun zu können, dass viele Franzosen dem so empfundenen Chaos der Moderne einfache Weltbilder entgegensetzen. Aber Vernon Subutex versucht es wenigstens.|Kiwi Verlag, 432 Seiten, 22 Euro.|Rezension von Brigitte Neumann.