Kommentar

40 Jahre E-Mail

Stand
Autor/in
Ulrich Rüdenauer

Vor 40 Jahren landete die erste E-Mail auf einem deutschen Rechner. Seither hat sich eine digitale Revolution zugetragen, die große Vorzüge und nicht wenige Nachteile mit sich gebracht hat. Ein paar Jubiläumsgedanken eines ehemaligen Eilboten.

Jetzt ist Montag ½ 11 Uhr vormittag. Seit Samstag ½ 11 Uhr warte ich auf einen Brief und es ist wieder nichts gekommen.

Das schreibt Franz Kafka an seine künftige Verlobte Felice Bauer am 4. November 1912. Eine leichte Verzweiflung ist in diesen Zeilen enthalten, aber auch ein behutsamer Vorwurf.

Unzulänglichkeiten des "analogen" Postwegs

Die Unzuverlässigkeit des Fräulein Bauer ist das eine. Das andere ist die Post: Briefe haben einen langen Weg zurückzulegen, und es kann ihnen etwas dazwischenkommen – ein verpeilter Postbeamter, eine Schlamperei, ein ungeplanter Umweg durch fremde Städte, undurchschaubare Briefverteilungszentren.

Wenn das Schreiben nicht bis zu einer gewissen Stunde zugestellt ist, dann heißt es warten bis zum nächsten Tag. Im bürgerlichen Zeitalter des ausgiebigen Briefeschreibens musste man Geduld erlernen und gute Nerven besitzen, gerade wenn es um Liebesdinge ging.

Ein falsches Wort, eine skeptische Anmerkung, eine bohrende Beunruhigung konnte erst zeitverzögert, möglicherweise Tage, wenn nicht Wochen später bereinigt oder geklärt werden. In ganz dringenden Fällen blieb einem nur das Telegramm, in dem man sich kurz zu fassen hatte. Die erste telegrafische Leitung gab es allerdings nicht vor Mitte des 19. Jahrhunderts.

In den frühen 1990er Jahren, als ich bei der Deutschen Bundespost als Eilbote jobbte, war das Telegramm schon vom Faxgerät verdrängt worden – aber ein- bis zweimal am Tag kam es doch noch vor, dass ich ein Fernschreiben mit meinem VW-Post-Golf zustellen durfte, meistens einen Glückwunsch zum Geburtstag oder die Nachricht eines Todesfalls.

Dass ich einer in Kürze aussterbenden Tätigkeit nachging, der des Eilboten, war mir wohl sehr viel weniger bewusst als vielen meiner Generationsgenossen, die bereits ihren Commodore C64 gegen einen Macintosh eingetauscht hatten und die digitale Zukunft am Horizont aufleuchten sahen.

Die erste elektronische Post im Jahr 1971

Ich hingegen schrieb Briefe mit der Hand, Hausarbeiten mit einer Schreibmaschine und las Goethes „Werther“ oder Kafkas schön-schmerzliche Briefe. Spät kapierte auch ich, was das ausgehende Jahrhundert geschlagen hatte: Bereits 1971 hatte der US-amerikanische Informatiker Roy Tomlinson ja den ersten elektronischen Brief verschickt, von einer größeren Öffentlichkeit kaum wahrgenommen.

Am 3. August 1984 um 10:14 Uhr wurde in Deutschland dann die erste Internet-E-Mail empfangen: Michael Rotert von der Technischen Hochschule Karlsruhe erhielt eine Grußbotschaft von der Internet-Pionierin Laura Breeden. Die saß in Massachusetts, also auf einem anderen Kontinent, und hatte irgendetwas in ihren Computer getippt, was nur Sekunden später seinen Empfänger fand.

360 Milliarden E-Mails täglich

Heute, 40 Jahre danach, werden weltweit jeden Tag gut 360 Milliarden E-Mails verschickt. 360 Milliarden! Täglich! Die E-Mail-Kommunikation ist beruflich und privat inzwischen so selbstverständlich geworden, dass wir uns ein Leben ohne sie nicht mehr vorstellen können.

Selbst SMS und WhatsApp konnten der E-Mail bislang nichts anhaben. Das hat nicht zuletzt literaturhistorische Folgen: Das Literaturarchiv in Marbach, in dem Hunderte von Dichternachlässen und selbstverständlich auch Briefwechsel wie in einer heiligen Grabkammer verwahrt werden, muss sich nun auch mit den neuen technischen Gegebenheiten arrangieren. Es werden Verfahren entwickelt, wie digitale Nachlässe – wozu auch E-Mails gehören – dauerhaft archiviert werden können.

Der Briefroman des 18. Jahrhunderts erfährt ebenfalls eine Aktualisierung – als E-Mail-Roman. So hat Daniel Glattauer etwa mit „Gut gegen Nordwind“ im Jahr 2006 einen großen Publikumserfolg gefeiert; Zsuzsa Bánk lässt in „Schlafen werden wir später“ zwei Freundinnen von Computer zu Computer schwermütige Nachrichten austauschen.

Im Prinzip aber sind solche Bücher dem klassischen Briefroman verhaftet, auch wenn E-Mail drübersteht – eine ausschweifende, wohlformulierte, auf Antwort und Erwiderung basierende Schriftverkehrs-Prosa.

Schnelligkeit auf Kosten der Sprachfeinheit

Für den Großteil der heute täglich versandten 360 Milliarden Mails trifft weder ausschweifend noch wohlformuliert zu: Das Medium treibt uns zur Eile an, die Feinheiten der Sprache gehen dabei meist verloren. Mails sollen kurz, schnell beantwortet und ohne formalen Schnickschnack verschickt sein.

Manchmal provozieren sie impulsive Reaktionen, die uns später durchaus reuen können. Quillt das Postfach über oder ist man unkonzentriert, vertut man sich auch schon mal im Adressfeld und antwortet dem falschen Empfänger – was fürchterliche Verwicklungen nach sich ziehen kann:

Aus Versehen schickt man einem Bekannten eine gehässige Beschreibung von dessen Charakter, die eigentlich in lästerlicher Absicht an einen gemeinsamen Freund gerichtet sein sollte.

Oder ein grammatikalisch zweifelhaftes Liebesbekenntnis landet – einer Freudschen Fehlleistung geschuldet – bei der falschen Frau respektive dem verkehrten Mann, die oder der daraus wiederum verhängnisvolle Schlüsse ziehen wird.

Die Bedächtigkeit, die sich durch das Schreiben eines Briefes, das Adressieren, das Frankieren, das Zum-Postkasten-Bringen notwendigerweise ergibt, fällt bei der E-Mail dem elektronischen Eilverfahren zum Opfer. Ein Klick auf Senden – und das Unheil ist da.

Schriftliche Kommunikation in Echtzeit

Die Rasanz hat natürlich auch Vorzüge, aber die liegen eher im Ökonomischen. Zeit wird gespart, Porto wird gespart, Schreibarbeit wird gespart. Schriftliche Kommunikation findet in Echtzeit statt, Räume werden in Windeseile überwunden, Wegstrecken sind auf digitalen Autobahnen eigentlich nur noch abstrakte Entfernungen.

Selbst Kafka hätte das wohl als höchst zwiespältig empfunden. Die Gleichzeitigkeit regiert. Keine Postkutsche, kein Flugzeug, kein VW-Post-Golf kann da jemals mithalten.

Wer heute noch von einem Dasein als Eilbote träumt, ist der Gegenwart irgendwie verloren – so viele E-Mails er zu den 360 Milliarden auch täglich beitragen mag.

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Autor/in
Ulrich Rüdenauer