Er war nicht nur der Erfinder der Spieltheorie, Pionier des Computers und Vordenker der Künstlichen Intelligenz, sondern hatte in Los Alamos auch maßgeblich Anteil an der Entwicklung der Atombombe.
Im Zentrum des neuen Romans von Benjamín Labatut steht eines der größten Genies des 20. Jahrhunderts: der Mathematiker John von Neumann. 1903 wurde er als Janos von Neumann in Budapest als Sohn einer jüdischen Familie geboren.
Er studierte unter anderem in Berlin, folgte aber schon vor der Machergreifung Hitlers einem Ruf nach Princeton. Benjamín Labatut zeigt die ganze Zwiespältigkeit dieses Genies: Von Neumann hatte keine Bedenken, sein Wissen in den militärisch-industriellen Komplex einzuspeisen, er war ein gefragter Berater von Armee und Konzernen. Sein MANIAC-Computer berechnete die thermonukleare Reaktion der Wasserstoffbombe.
Mathematiker John von Neumann – facettenreich dargestellt
Facettenreich umkreist der Roman John von Neumann in perspektivisch gebrochener Erzählweise. Zahlreiche Angehörige, Freunde und Weggefährten werden in dokumentarisch anmutenden Kapiteln zu Erzählern und beschreiben prägende Erfahrungen mit ihm.
Man kann sie einteilen in zwei Gruppen: hier seine Mitstreiter, Kollegen, zum Teil auch Rivalen, dort die Mutter, der Kindheitsfreund, die beiden Ehefrauen und die Tochter.
Schon der kleine Janos verblüffte alle mit seiner geradezu außerirdischen analytischen Intelligenz. Mit zwei Jahren konnte er lesen, später Buchseiten in sein Hirn einscannen und im Handumdrehen mathematische Probleme lösen, an denen erwachsene Wissenschaftler wochenlang grübelten.
Die Mutter bekennt in ihrem kleinen Stück Rollenprosa, dass ihr Sohn schon bei der Geburt wie ein Mann mittleren Alters gewirkt habe. Zum Übermenschlichen kommt von dieser Seite aber auch manch Allzumenschliches, etwa wenn von Neumanns erste Ehefrau Mariette unterhaltsam lästert, er hätte sich nicht selbst die Schuhe zubinden können und wäre ohne sie vor dem Herd verhungert.
Nebenfiguren sind weniger gelungen
Was die Kollegen betrifft, klingen viele ihrer Stimmen hingegen ziemlich ähnlich, und bisweilen wirkt es so, als würden sie Fakten aus Biographien, Geschichtsbüchern oder dem Wissenscontainer Wikipedia aufsagen.
Trotzdem ist „Maniac“ ein spannendes, erhellendes und sehr willkommenes Buch. Die international vielbeachtete neue Neumann-Biographie von Ananyo Bhattacharya ist noch nicht ins Deutsche übersetzt worden.
Bei Labatut ist die Spannung zwischen Rationalität und Irrationalem in Wissenschaft, Gesellschaft und Politik das übergreifende Leitmotiv. Sie macht sich auch im Titel des Romans geltend: MANIAC steht als Abkürzung für „Mathematical Analyzer Numerical Integrator And Computer“, aber eben auch für Verrücktheit, Besessenheit.
John von Neumann kam an die Grenze seiner Rationalität, als er mit Anfang fünfzig an einem sehr qualvollen tödlichen Krebsleiden erkrankte. Der Spieltheoretiker, der die Hochrüstung bis zum vielfachen atomaren Overkill konzipiert hatte und dabei den hundertmillionenfachen Tod von Zivilisten einkalkulierte, bekam die eigene Todesangst nicht in den Griff. Er wandte sich verzweifelt der Religion zu, was nicht ohne groteske Momente war.
Historischer Roman mit Ausblick auf KI
Am Ende des Romans steht ein langer Epilog, der von jenen Geistern handelt, die von Neumann beschwor und die heute den menschlichen Verstand alt aussehen lassen: die Künstliche Intelligenz.
Einen ihrer ersten Triumphe feierte sie bei jenem komplexesten aller Strategiespiele, dem sich auch von Neumann in Los Alamos gewidmet hatte: Go. 2016 trat der südkoreanische Großmeister Lee Sedol gegen das von Google entwickelten Programm AlphaGo an, das vier von fünf Partien gewann.
Benjamin Labatut ist ein kluges, aspektereiches Buch gelungen, das hinter die Benutzeroberfläche unserer von immer mehr Informationstechnologie bestimmten Welt schaut. Ein historischer Roman, wie er aktueller nicht sein könnte.