Die unfreiwillig miteinander verbrachten „Drei Tage im Juni“ von Gail und Max werden Folgen haben – und Anne Tyler zeigt sich erneut als unübertreffliche Menschenbeobachterin.
Ausgerechnet am Tag vor der Hochzeit ihrer einzigen Tochter kommt es ziemlich dicke für die 61-jährige Gail: Nach Jahren als stellvertretende Schuldirektorin droht ihr die Kündigung wegen vorgeblich mangelnder Sozialkompetenz.
Dann steht plötzlich ihr Ex-Mann Max vor der Tür, um sich für zwei Nächte in ihrem Häuschen in Baltimore einzuquartieren. Zu allem Überfluss mit einer alten Katze im Schlepptau, dabei ist der Schwiegersohn in spe schlimm allergisch.
Damit nicht genug, sitzt wenig später die Tochter Debbie aufgelöst auf dem Sofa, weil sie von einem nicht lang zurückliegenden Seitensprung ihres Bräutigams erfahren hat.
Frauenleben auf emotionaler Sparflamme
Das ist die Ausgangssituation des neuen Romans von Anne Tyler, „Drei Tage im Juni“. Wie wird es in diesen drei Tagen nun weitergehen? Wird Max mit seiner raumgreifenden Art seiner Exfrau, wie erwartet, den letzten Nerv rauben?
Wird Debbies Hochzeit platzen oder werden ein paar kleine „white lies“ alles richten? Und wie wird es mit der Katze weitergehen, vom Job ganz zu schweigen?
Anne Tyler lässt dieser Exposition ein Kammerspiel folgen, das sich zum Porträt einer Frau mit einem Leben auf emotionaler Sparflamme weitet. Ganz oder fast alltägliche Vorgänge wie ein ziemlich misslingender Friseurbesuch, der Kauf eines Anzugs für den Brautvater Max, Restaurantbesuche und Imbisse in der eigenen Küche, die Probe für die Trauung am nächsten Tag rufen Erinnerungen auf: an das Kennenlernen in der Studenten-WG, den ersten Kuss bei einem Picknick vor einem malerisch gelbgoldenen Getreidefeld, die ersten gemeinsamen Jahre.
Die kleinen Dinge statt der großen Dispute
Um die Leser ins Nachdenken zu bringen – etwa über Willensfreiheit, die Rolle des Unbewussten oder die Frage, was eine Ehe am Laufen hält – braucht Anne Tyler keine tiefgründig-bildungssatten Dialoge oder Erwägungen. Die kleinen Dinge illustrieren Gails Beziehung zu Max.
Zwanzig Jahre nach der Scheidung und einigen schwierigen Phasen ist das Verhältnis der beiden einigermaßen befriedet. Doch weiterhin hängt Gail der Auffassung an, Max neige im Umgang mit anderen wie mit sich selbst zu einer gewissen achtlosen Übergriffigkeit.
Wie zu erwarten war, geraten diese Grenzen bei Gail nach und nach ins Bröckeln. Die gemeinsam verbrachte Zeit, das erleichternde Gefühl des Einverständnisses gegenüber den Herausforderungen der Hochzeitsfeierlichkeiten, die geteilte Sorge um die Tochter führen Gail vor Augen, was Max vielleicht schon länger wusste: dass da noch etwas ist, woran man anknüpfen könnte.
Er entpuppt sich nämlich als gar nicht so achtlos, wie Gail denkt, sondern kennt sie womöglich besser als sie selbst. So begegnet er ihrer gewohnheitsmäßigen Bedenkenträgerei mit einem fast rührenden Vergleich:
Tatsächlich ist Gails Selbstbewusstsein prekär und schwankt zwischen Selbstzweifel, verdrängten Gefühlen von Schuld und Trauer und – ja, auch – Rechthaberei. Das macht es den anderen im Allgemeinen und Max im Besonderen nicht gerade leicht. Stichwort „fehlende Sozialkompetenz“.
Denn sie wissen nicht, was sie tun
Gails allmählich wachsende, kurz sogar von Panik begleitete Selbsterkenntnis, nachdem die Tochter in die Flitterwochen aufgebrochen ist und Max wieder heimwärts Richtung Delaware, gießt die begnadete Menschenkundlerin Anne Tyler in ebenso komische wie ergreifende innere Monologe:
Dass Menschen mitnichten immer wissen, was sie tun, kann bekanntlich fatale Folgen haben. Auch Anne Tylers in ihrer ganzen verschlossenen Unbeholfenheit bezwingende Heldin Gail hat dies einmal erfahren – und damit ihre Ehe ruiniert.
Es kann aber auch ein Glück sein, vorausgesetzt, man tut das, was Gail künftig neu lernen wird: es auch mal gut sein lassen. Gut möglich, dass eine betagte Katzendame ihren Anteil daran hat.
Anne Tylers „Drei Tage im Juni“ ist ein Kabinettstück aus der Mittelschicht der USA, deren Angehörige trotz allem mehr oder weniger erfolgreich versuchen, ihrem moralischen Kompass zu folgen. Ein kleiner, feiner Roman, den man gern zwei- oder dreimal liest, um herauszufinden, wie alles so kommen konnte.
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