Mit „Lichtspiel“ legt Daniel Kehlmann nicht nur ein Portrait des legendären Filmregisseurs Georg Wilhelm Pabst vor, sondern auch eine Parabel über die künstlerische Arbeit innerhalb eines totalitären Regimes. Einige starke, nämlich wild-groteske Szenen im Zentrum des nationalsozialistischen Machtapparates überzeugen, doch die biografische Fiktion enttäuscht insgesamt. Viele Pointen sind vorhersehbar, die größtenteils biedere Prosa entwickelt sich zur Nummernrevue. Selbst Pabst war unter widrigen Bedingungen experimentierfreudiger als der Schriftsteller Kehlmann.
Eigentlich beginnt dieser Roman auf Seite 202. Der 1895 im damaligen Böhmen geborene Georg Wilhelm Pabst, Regisseur legendärer Stummfilme wie „Die freudlose Gasse“ oder „Die Büchse der Pandora“, jener Schöpfer sozialkritischer Tonfilme, der auch Bertolt Brechts „Dreigroschenoper“ fürs Kino eingerichtet hat, betritt in Berlin das Büro von Propagandaminister Dr. Joseph Goebbels.
„Pabst hatte ein großes Büro erwartet, nicht aber ein so großes. Der Raum hätte über hundert Menschen fassen können; aber alles, was er enthielt, war ein riesiger Teppich und, weit entfernt, ein Schreibtisch mit einem Telefon und zwei Stühlen. An der Wand dahinter – so weit weg, dass man blinzeln musste, um es zu erkennen – hing ein golden gerahmtes Bild des Führers. Hinter dem Schreibtisch saß der Minister.“
Eine filmreife, schrecklich groteske Szene mit Goebbels
So größenwahnsinnig die Ausmaße des Büros, so grotesk das Gespräch der beiden. Der Propagandaminister, der auch der wichtigste Filmproduzent im NS-Reich ist, möchte Pabst unbedingt engagieren. Höflich erklärt der Umworbene, er habe nicht die Absicht, „weiter Filme zu machen.“ Doch Goebbels entgegnet schroff: „Falsche Antwort.“ Nicht nur einmal, immer wieder: „Falsche Antwort, falsche Antwort.“ Der Minister gefällt sich darin, den psychopathischen Höllenfürsten zu geben.
„‚Bedenken Sie, was ich Ihnen bieten kann‘, unterbrach der Minister, ‚zum Beispiel KZ. Jederzeit. Kein Problem. Aber das meine ich ja gar nicht. Ich meine, bedenken Sie, was ich Ihnen auch bieten kann, nämlich: alles, was Sie wollen. Jedes Budget, jeden Schauspieler. Jeden Film, den Sie machen wollen, können Sie machen. Aber das wissen Sie. Deshalb haben Sie mich ja aufgesucht. (…).‘“
Das ist eine Lüge, denn Pabst ist keineswegs freiwillig gekommen. Er wurde einbestellt. Was aber soll er jetzt tun? Sich auf einen Pakt mit dem Teufel einlassen? Oder doch versuchen, in die Schweiz zu fliehen? Eine dramatische Szene, die ein furioser Romanbeginn für Kehlmanns literarisches Biopic gewesen wäre. Stattdessen arbeitet sich „Lichtspiel“ in der ersten Hälfte an den ästhetischen Positionen und biographischen Wendepunkten des Filmregisseurs ab. Viel zu detailreich wird sein Niedergang beschrieben, als ginge es vor allem darum, der historischen Figur gerecht zu werden: In Hollywood hat Pabst mit „A Modern Hero“ einen Film gedreht, der beim Publikum und bei der Kritik durchfiel. Vergeblich versucht er nun, renommierte Schauspielerinnen fürs nächste Projekt zu gewinnen. Er quält sich auf der Partybühne, leidet am Smalltalk unter Palmen. Ihm, dem Meister der schwarz-weißen Lichtspielkunst kommt es vor, „als wäre er in ein koloriertes Foto geraten.“
Ein Meisterregisseur, der gerne mal mit anderen Filmemachern verwechselt wird
Ständig nennt ihn jemand den „größten Regisseur Europas“, um dann von seinen Meisterwerken wie „Metropolis“ zu sprechen, die er aber alle nicht gedreht hat. Ein Running Gag in Kehlmanns Roman, der wohl zeigen soll, dass es mit Fritz Lang, Friedrich Murnau und Ernst Lubitsch weitaus einflussreichere Regisseure dieser Generation gab, dass Pabst nach den Erfolgen in der Stummfilmzeit, mit der Dialogregie eher Schwierigkeiten hatte und kaum noch Werke von Weltrang schuf. Tatsächlich schlägt er sich in Hollywood mit schlechten Drehbüchern, mittelmäßigen Mitarbeitern und übergriffigen Produzenten herum. Auch das Propagandaministerium in Berlin weiß von der misslichen Lage des Regisseurs und schickt einen Vertreter nach Übersee, um Pabst zur Rückkehr zu bewegen.
„Deutschland braucht Sie. Unsere Regierung ist pragmatischer, als man oft vermutet. Sie sind ein großer Künstler. Und Sie sind kein Jude. Und Sie haben sich schon zuvor ... Verzeihen Sie, Maestro, aber ich spreche es jetzt einfach aus. Sie haben sich auch in Ihrer bisherigen Arbeit nicht als völlig kompromisslos gezeigt.“
Rückkehr ins Deutsche Reich
Pabst wäre wohl trotz seiner Abneigung gegenüber Hollywood in den Vereinigten Staaten geblieben, wenn seine schwerkranke Mutter in der Heimat nicht um Hilfe gebeten hätte. Also reist der Filmemacher mit seiner Familie zurück nach Österreich, bekommt es dort mit einem dienstbeflissenen Ortsgruppenführer und mit dem nun nicht mehr ganz so devoten Goebbels-Abgesandten zu tun. Der Zweite Weltkrieg beginnt, die Nazis überfallen ein Land nach dem anderen und eine Rückkehr ins amerikanische Exil scheint nicht möglich. Der Mann, der einst der „rote Pabst“ genannt wurde, hält sich für einen Lichtspielkünstler, dessen Aufgabe es vor allem ist, „Magie aufs Zelluloid zu bannen“. Also schlägt er den vermeintlich „pragmatischen“ Weg ein. Besser einen nächsten Auftrag als keinen, sagt er sich. Die Krise sei ohnehin der Grundmodus seiner Profession.
„Wenn man einen Film macht, ist man immer in einer Notlage. Das ist der Normalzustand.“
Pabst wird im NS-Reich zwar teure, aber angesichts seiner Fähigkeiten eher mediokre Werke abliefern. „Komödiantinnen“ und „Paracelsus“ sind Filme mit verklärten Hauptfiguren aus der deutschen Geschichte, die sich in den Propagandazusammenhang einfügen. Pabst blendet die politischen Verhältnisse zunehmend aus und genießt den zweifelhaften Ruhm im Deutschen Reich. Seine Expertise wird selbst für andere Prestigeprojekte angefragt: Er soll Leni Riefenstahls Spielfilm „Tiefland“ retten, aber die ist weder als Hauptdarstellerin noch als Regisseurin bereit, einen Rat anzunehmen. Zigmal werden dieselben Szenen gedreht, doch Riefenstahl erweist sich nicht nur als arrogant, sondern auch als unfähig, ihr Spiel vor der Kamera zu variieren. Pabst mag es kaum glauben, was er mit ihr erlebt.
Leni Riefenstahl wird zur bösartigen Witzfigur
„Und sie sprach alles exakt wie zuvor, keine Silbe war anders, kein Atemzug, keine Bewegung, vom Anfang der Szene bis zum Ende.“
Leni Riefenstahl wurde von ihren zahlreichen Verehrern in der Nachkriegszeit oft als „künstlerisches Genie“ und „politischer Trottel“ beschrieben. In „Lichtspiel“ entwirft Kehlmann ein anderes Bild, indem er nicht nur Riefenstahls mangelnde Fähigkeiten am Set schildert, sondern auch das Leiden ihrer Komparsen aus Konzentrationslagern erwähnt. Riefenstahl hat eine wissentliche Zwangsrekrutierung der totgeweihten Roma und Sinti für „Tiefland“ nach dem Krieg zwar stets abgestritten, aber in Kehlmanns Roman sind die Verstrickungen der Hitler-Freundin ziemlich offensichtlich. In „Lichtspiel“ ist Riefenstahl eine bösartige Witzfigur. Doch auch Pabst scheint über Leichen zu gehen. Jedenfalls kümmert er sich nicht um das Schicksal seiner eigenen Statisten. Mit „Der Fall Molander“ verfilmt der Regisseur die Geschichte eines Nachwuchsgeigers, der aus Geldnot seine Stradivari veräußert. Pabst beginnt im August 1944 in Prag zu drehen. Für die Szenen im Konzertsaal braucht er viele Statisten. Ein junger Mitarbeiter meint, seinen ehemaligen, mittlerweile ausgemergelten Kinderarzt in den anonymen Reihen zu erkennen. Ob die Namenlosen vor der Kamera aus Lagern herbeigeschafft worden sind, wird nicht geklärt. Fest steht: Auch Pabst ist längst ein Mensch ohne Moral. Weder das Schicksal seines inzwischen zum Hitlerjungen mutierten Sohnes noch die Ehe mit Gertrude liegen ihm am Herzen. Nur der schöne Schein der Bürgerlichkeit soll gewahrt bleiben. Wenn Kehlmanns Charakterisierung zutrifft, hatte Pabst anders als Riefenstahl durchaus schauspielerisches Talent. Überflüssig allerdings, dass die Verlogenheit im inneren Monolog noch ausgeführt wird.
„Trude stand auf. Sie küssten einander. Wie gut, dachte er, dass auch der nächste Mensch nicht sehen konnte, was in einem vorging.“
Natürlich ahnt Trude etwas. Sie bleibt bei dem Gatten, weil sie keine andere Wahl hat. Nach 1945 wird sie sich aber am ignoranten Gemahl rächen und ihn mit selbstbewusster Gefühllosigkeit herumkommandieren. Doch während der NS-Zeit verleugnet sie nicht nur eigene Ambitionen, sondern vor allem ihre politische Haltung. In einem irren Lesekreis gelangweilter Damen aus höchsten NS-Kreisen soll sie über faschistische Kitschliteratur sprechen. Am liebsten würde sie die Bücher von Alfred Karrasch in die Tonne treten, aber das wäre lebensgefährlich, nicht zuletzt auch für ihren Mann.
Eine Leserunde, die sich an abstoßender Prosa euphorisiert
„Trude räusperte sich, um Zeit zu gewinnen. Ja, was sollte man sagen? Das Buch war so uninteressant, dass es nicht einmal schlecht war. (…) die Sprache hatte keine Kraft, die Figuren hatten kein Leben, niemand sagte je etwas Interessantes.“
Die Beschreibung der bedrückenden Leserunde, die sich an abstoßender Prosa euphorisiert, gehört gewiss zu den Höhepunkten des Romans, der sich allerdings zu einer Nummernrevue entwickelt. Es fehlt sowohl eine inhaltliche als auch eine ästhetische Idee, die die Einzelszenen verbinden und zu einer Erkenntnis jenseits von Plattitüden führen könnte. In dem Roman steckt viel Recherche, und leider merkt man das an nicht wenigen Stellen. Manche Zitate, die Pabst zugeschrieben werden, lassen sich wortwörtlich im Online-Lexikon nachlesen. Auch der Versuch, sich in der Prosa cineastischer Schnitt-Techniken zu bedienen, ist im Portrait eines Filmregisseurs nicht gerade originell. Die abrupten Achsensprünge, von denen Pabst schwärmt, wirken im Roman allerdings unproduktiv. Kehlmann wechselt ständig die Perspektive, doch es vermag partout keine Komplexität entstehen. Mal ist die Erzählstimme ganz bei Pabst, dann wieder bei einer vermeintlichen Nebenfigur, meistens wird personal erzählt, zwischendrin auch auktorial. Die Charaktere erhalten keine psychologische Tiefe; die Prosa in den Einzelszenen bleibt oft behäbig und redundant. Immer wieder darf Pabst sein Sprüchlein von der Notlage als Normalzustand aufsagen, das zur Rechtfertigung für alles und nichts wird. Doch in der Wiederholung entsteht kein zwingendes Leitmotiv.
Insgesamt mehr Archivarbeit als literarische Kunst
Der Roman möchte viel zu viel sein: Nicht nur ein Lehrstück über die Unfreiheit der Kunst in einer Diktatur, sondern auch ein historisch-kritischer Essay über die Ästhetik und Ökonomie der frühen Kinojahre. „Lichtspiel“ ist in manchen Passagen ein Familienroman, dann wieder Gesellschaftsparodie. Die Rekonstruktion der Filmstoffe, die gewiss redliche Würdigung der vielen Stars der damaligen Zeit, von Greta Garbo bis Louise Brooks, die Ausführungen zur Drehtechnik und Schauspielführung, sind eher als Archivarbeit und weniger als literarische Kunst einzuordnen. Nahezu banal wirkt die Rahmenhandlung, die im gegenwärtigen Kulturfernsehen sowie in einem Altersheim angesiedelt ist. Die weitgehend biedere Erzählweise macht die biografische Fiktion zu einer ermüdenden Lektüre. Der Filmregisseur Pabst war selbst unter widrigsten Bedingungen experimentierfreudiger als der Schriftsteller Daniel Kehlmann, der alle literarischen Möglichkeiten ausschöpfen könnte.
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Buchkritik Daniel Kehlmann – Lichtspiel
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Rezension von Carsten Otte.
Rowohlt Verlag, 480 Seiten, 26 Euro
ISBN 978-3-498-00387-6