Buchkritik

Serhij Zhadan – Chronik des eigenen Atems

Stand
Autor/in
Niels Beintker

Zhadans neuer Gedichtband versammelt Texte aus den Monaten vor und nach dem 24. Februar 2022, als der völkerrechtswidrige russische Angriffskrieg gegen die gesamte Ukraine begann.

Falle Schnee, auf unsere Kindheit – / Zuflucht aus Treue und Klang, / hier waren wir vertraut / mit der dunklen Seite der Sprache / mit der Verdunklung der Zärtlichkeit, / hier lernten wir die Stimmen zusammen zu legen / wie Besitz …

Eine „kurze Geschichte vom Schnee“ will die Stimme in diesem Gedicht von Serhij Zhadan zusammentragen, gestützt auf Nacherzählungen von Augenzeugen, ebenso auf Lieder und Erinnerungen von Passanten. Der Schnee wird dabei selbst auf den Weg geschickt, durch die nächtliche, dunkle Stadt, zu den Feldern vor ihren Toren, ebenso durch die Lebenszeit eines Menschen. Und nichts verschwindet hier unter dem Schnee. Im Gegenteil: Alles tritt ans Licht.

Schnee als Metapher für Veränderung

Für Serhij Zhadan – so erzählt er dieser Tage im Interview – ist der Schnee eine Metapher für Bewegung und Veränderung, selbst in Momenten der Erstarrung.

Einerseits ist Schnee, das, was das Leben bedeckt, das, was nach einer bestimmten Manifestation des Lebens kommt, andererseits ist Schnee nichts Endgültiges, nichts, was alle möglichen Auswege versperrt. Trotz allem kommt nach ihm etwas, nach ihm bleibt trotz allem die Möglichkeit eines Auswegs, die Möglichkeit der Stimme.

Im neuen Gedichtband „Chronik des eigenen Atems“ nimmt die „kurze Geschichte des Schnees“ eine wichtige Rolle ein. Das lange Gedicht, datiert auf den 10. Februar 2022, ist das letzte, das vor dem Beginn des völkerrechtswidrigen russischen Angriffskrieges gegen die gesamte Ukraine entstand.

Vier Monate lang konnte Serhij Zhadan keine Poesie mehr schreiben. Die Sprache verschwand, berichtet der Schriftsteller, der heute auch als Soldat für die Freiheit seines Landes kämpft, im Nachwort des Buches. Der tiefe Bruch, die russische Invasion, ist in der Mitte des Gedichtbandes dokumentiert.

Gedichte gegen das Verstummen und die Angst

Es gibt ein sicht- und fühlbares Davor und Danach. Die Gedichte nach dem Februar 2022 richten sich auch gegen das Verstummen, ebenso gegen die Angst

Es erwarten Menschen den Abend, die Schnecken gleichen, / so hart schlafen sie auf den Bahnhöfen, so tief. / Gebrochen die Grenzlinie wie ein Kiefernzweig. / Der Weg ist schwer, wenn du dein Haus und den gestern auf dem Rücken trägst.

Die Menschen, die den Schnecken gleichen, flüchten vor den russischen Aggressoren: Frauen und Kinder, auf der Odyssee westwärts, auf Wegen, die von Stimmlosigkeit markiert sind. „Das Haus ist euch genommen, nicht aber das Herz“, ruft ihnen die Stimme im Gedicht aus dem August 2022 nach.

Die Poesie, so Serhij Zhadan, könne das aufnehmen, was auf den ersten Blick als unsagbar erscheint. Es könne hinter die Dinge, hinter das Sichtbare blicken. Das macht diese Form des Schreibens – in den Augen des Schriftstellers – besonders.

Und natürlich braucht es ein Bild, eine Metapher, eben genau die metaphorische Art zu sprechen, um diesen Dingen Klang zu verleihen, um sie aus dem Schatten zu holen, um sie aus dem Dunkel ans Licht zu holen. Vielleicht ist das eine Funktion der Dichtung in diesen Zeiten, in den Zeiten des Krieges, dass die Dichtung von etwas Zeugnis ablegen kann, wozu die gewöhnliche menschliche Sprache nicht in der Lage ist, wofür ihr die Sprachkraft, das Vokabular nicht reicht.

Serhij Zhadans „Chronik des eigenen Atems“, begonnen im März 2021, führt bis in den Juni 23. Immer wieder durchstreifen die Gedichte, eindrücklich übertragen von Claudia Dathe, die große Stadt: Charkiw. Hier ähnelt die Metropole – vor der Ausweitung des Angriffskrieges – einem Liebesbrief, dort wird sie, im ersten Kriegswinter, von Sternsängern durchquert, dann schließlich wird sie von den Menschen verteidigt und vorgetragen „wie ein Gedicht“. Ebenso werden die Landschaften im Umland, darunter die Flussufer und die Weinberge, im Wandel der Jahreszeiten und Zeitläufte festgehalten in den Versen.

Poetische Gespräche mit Autoren

Und: Serhij Zhadan führt immer wieder ein poetisches Gespräch mit Autoren, die für ihn wichtige Bezugspunkte im Schreiben sind. Darunter Bruno Schulz, der große polnischsprachige Erzähler aus Galizien, 1942 von den Deutschen ermordet.

(Bruno) Schulz‘ Figur hat eine besondere Tragik, denn nun sind ja schon 80 Jahre vergangen, seit er umgekommen ist, und in der Ukraine werden immer noch Autoren umgebracht, kommen immer noch Autoren um, das ist natürlich, das ist unverzeihlich, es ist sehr bitter, sich das zu vergegenwärtigen, es ist sehr bitter, darüber zu sprechen, denn die Kultur ist schrecklich empfindlich, was den Krieg angeht, sie ist de facto die Komponente, die in erster Linie zerstört wird, sie ist die erste, die dem Druck nicht mehr standhält, die kaputtgeht, zerstört wird, und das sind dann die Welten, die sich später nicht mehr wiederherstellen lassen.

Autor: Serhij Zhadan hat Bruno Schulz eine Reihe von Psalmen gewidmet. Dem Krieg – und mit ihm den immer wiederkehrenden Schnee – setzt er die Liebe entgegen.

Sie steht überhaupt im Zentrum der gesamten Gedichtsammlung, ist Kontrapunkt zu allen Verheerungen der Gegenwart.

Auch wenn es nicht um Liebe geht – es geht trotzdem um Liebe. / Auch wenn du nicht existierst – deine Abwesenheit / gibt denen Hoffnung, die überhaupt nichts haben, / die in den Trümmern alte Schulbücher finden.

Je länger der russische Krieg gegen die freie Ukraine andauert, desto mehr findet auch das damit verbundene Geschehen konkreten Niederschlag in den Gedichten. Nur selten aber vordergründig, wie etwa dann, wenn, im ersten Winter und im Schnee, von Kämpfern die Rede ist, die dem Land ausgehen.

Der dritte Kriegswinter in der Ukraine

Serhij Zhadan schreibt oft aus einer Position der Stille heraus, abtastend, beobachtend, erkundend. Während seine „Chronik“ in Deutschland erscheint, beginnt in der Ukraine der dritte Kriegswinter. Als der Schriftsteller einige Gedichte aufnimmt, so berichtet er, schlägt in der Nähe seiner Wohnung eine Rakete ein.

Denken Sie einfach daran, dass tatsächlich genau jetzt unsere Städte, unsere Dörfer unter russländischem Beschuss liegen, genau jetzt Ukrainer, Erwachsene und Kinder sterben, das passiert jeden Tag, und da ist eine furchtbare Sache, die man weder auf die Politik noch auf die Geopolitik noch auf irgendwelche ökonomischen Interessen schieben kann. Natürlich hoffen wir sehr auf Hilfe. Vielleicht mehr noch als auf Hilfe hoffen wir auf Verständnis, für uns ist es sehr wichtig, dass wir in einer gemeinsamen Sprache miteinander sprechen, dass es sich dabei um eine ehrliche Sprache, um eine offene Sprache handelt. Das ist es, was die Menschen tun können.

Am 19. Oktober 2022 (kurz vor der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an Serhij Zhadan) heißt es in der „Chronik des eigenen Atems“:

Die Sprache brauche jene, die leise sprechen / und überzeugend schweigen.

Das wäre auch eine treffende Umschreibung für diese Gedichte, Ausdruck eines tiefen Humanismus und einer stetigen Ermutigung. Wir sollten hören, was dem Schweigen inmitten von Krieg und Kälte erwächst.

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