In einer neuen Krimireihe wird der rasende Reporter Egon Erwin Kisch zum Kriminalreporter, der eigene Fälle löst. Ein Streifzug durch das heutige Prag mit den Autoren der Reihe, Martin Becker und Tabea Soergel.
Prag an einem geschäftigen, sonnigen Herbstnachmittag: Touristen strömen durch die Gassen der Altstadt – auch vorbei an einem Renaissance-Haus, über dessen Holztür zwei Bären prangen. Es ist das Geburtshaus von Egon Erwin Kisch, in dem sein Vater und Onkel einen Laden für Tuchwaren hatten, erzählt Krimiautor Martin Becker:
„Der Onkel von Egon Erwin Kisch und der Vater hatten hier dieses Geschäft. Und Kisch war, so beschreibt er es selbst, als Kind oft dort und hat dort auch seine erste Zeitung namens ‚Zeitung‘ herausgebracht. Er hat halt Bleibuchstaben zusammengesucht, bis er irgendwann drei Sätze zusammen hatte, und hat dann quasi unter dem Tisch sitzend in diesem Tuchwarenladen seine eigene Zeitung rausgebracht." Schon zu Kischs Zeiten ist es in dieser Ecke Prags lebhaft zugegangen.
Egon Erwin Kisch wird zum Kriminalreporter
Der spätere „rasende Reporter“ wird hier bereits einiges von der Stadt mit ihren hellen und dunklen Seiten mitbekommen haben, ist sich Becker sicher: „Überliefert ist, dass Kischs Mutter vom Balkon aus manchmal die hier wartenden Prostituierten gefragt hat, wo denn Egonek sei. Und die haben dann gesagt, wissen wir nicht."
In ihrem Roman machen Martin Becker und Tabea Soergel aus dem Reporter Egon Erwin Kisch einen Kriminalreporter, der eigene Fälle löst. Das liegt durchaus nahe, denn Kisch war in Prag bestens vernetzt und kam auch immer wieder mit Gaunern und Ganoven in Kontakt. Der Roman spielt im Jahr 1910. Kisch war damals 25, hatte sich bereits einen Namen gemacht und schrieb für eine konservative Tageszeitung:
Martin Becker blickt durch die Toreinfahrt eines klassizistisch anmutenden Hauses, in dem heute das Ballett des Prager Nationaltheaters probt und sagt: „Man kann einen kleinen Blick in den Hof hineinwerfen und sehen, dass da hundertprozentig Platz war für allerlei Druckmaschinen."
Prag im Jahr 1910 – Alltag und politische Lage
1910 erschien die Bohemia zwei Mal am Tag. Tabea Soergel hat sich unzählige Ausgaben der Zeitung angesehen: „Man kann leider nicht, wenn man in diesem Archiv sucht, irgendwie Copy und Pasten. Aber ich habe wirklich von Hand sehr viele Artikel einfach abgeschrieben, wo ich dachte, das könnte man vielleicht noch mal gebrauchen."
Im Buch finden sich viele Artikel der damaligen Zeit als Schlagzeilen wieder – in kurzen Aufzählungen, die viel über die politische Lage des Jahres 1910 und den Alltag in Prag verraten:
Für größere Aufregung sorgte damals der Halley’sche Komet, der an der Erde vorbeiraste und dessen vermeintlich giftiger Schweif die Menschen in Angst und Schrecken versetzte.
Der Kriminalreporter wittert eine Sensation
In diesem Tumult geht die Mordserie, die sich im Roman ereignet, fast unter: Erst stirbt ein Versicherungsmakler, dann der Kriminalreporter des Prager Tagblatts. Seinen Kollegen Kisch beflügeln diese Unglücke. Er wittert die große Sensation, den Solokarpfen, auf den er schon lange wartet:
In dem Fall voran kommt er allerdings nur mit Hilfe der Medizin-Studentin Lenka Weißbach. Sie ist von Berlin nach Prag zurückgekehrt, um sich um ihre kranke Mutter zu kümmern.
Problematisches Verhältnis zu Frauen
Während die Autoren ihre Kisch-Figur mit einem intuitiven Gespür für Situationen ausstatten, besticht Lenka durch einen scharfen, analytischen Blick. Dass es diesen zweiten Blick gibt, war Tabea Soergel wichtig: „Die ganzen progressiven jungen Literaten in Prag, also auch Kafka, die hatten alle ein sehr problematisches Verhältnis zu Frauen. Auch Kisch, glaube ich. […] Er war schon ein Macho. Okay, er hat auch sehr viele positive Seiten. Deswegen ist es eben auch gut, dass es eine sehr präsente weibliche Hauptfigur gibt neben ihm."
Das historische Setting und die Dynamik der Figuren erinnern an die Kriminalromane von Volker Kutscher: Kisch ist wagemutig und melancholisch zugleich. Lenka kämpft dagegen mit dem Frauenbild ihrer Zeit.
Besonders reizvoll macht die neue Krimireihe aber Prag als Handlungsort, den das Autorenteam mit vielen Details beschreibt - so wie mit dieser Szene, die sich am berühmten Wenzelsplatz zugetragen haben soll, meint Becker: „Spätnachts, wenn im Grunde alles schon zu hat, gab es - das hat Kisch sehr ausführlich beschrieben - mobile Teestationen, wo man eine Buchtel, eine Zigarette und einen Tee mit Schuss bekam. Kisch behauptet, dass die Teestation, die hier stand, angeblich von einer Dame betrieben wurde, die diesen Wagen von zwei Doggen ziehen ließ. Ob das stimmt, weiß man natürlich wieder nicht."
Spannender und atmosphärisch dichter Krimi
Auch wenn sie bei ihrer Recherche zahlreiche Biographien, Bildbände und natürlich die Reportagen von Egon Erwin Kisch zu Hand genommen haben, hätten sie sich ihren eigenen Kisch erfunden und es – genau wie der rasende Reporter – an der einen oder anderen Stelle mit der historischen Wahrheit nicht ganz so genau genommen, erzählen Martin Becker und Tabea Soergel.
Mit Die Schatten von Prag ist ihnen ein spannender und atmosphärisch dicht erzählter Krimi gelungen, der Lust auf eine Fortsetzung macht. Und tatsächlich ist Kischs zweiter Fall bereits in Arbeit: Die Feuer von Prag, so der Arbeitstitel, soll im Herbst 2025 erscheinen.
Mehr zur Literaturstadt Prag
Buchkritik Zdena Salivarová – Ein Sommer in Prag
In „Ein Sommer in Prag“ erzählt Zdena Salivarová die leichtfüßige Geschichte einer jungen Sängerin im Prag der späten 50er Jahre. Auf eine Auslandstournee darf sie nicht mitfahren, doch trotz Intrigen, Bespitzelung und extremer Verluste bewahrt sie sich ihre Chuzpe und ihren Straßenwitz.
Übersetzt von Sophia Marzolff
Mitteldeutscher Verlag. 358 Seiten, 30 Euro
ISBN 978-3963118388
Buchkritik Milena Jesenská - Prager Hinterhöfe im Frühling. Feuilletons und Reportagen 1919-1939
Die Neuübersetzung der wichtigsten Feuilletons und Reportagen von Milena Jesenská geben einen spannenden Einblick in die Lebensrealitäten der zwanziger und dreißiger Jahre des 20 Jahrhunderts.
Rezension von Jonathan Böhm.
Herausgegeben von Alena Wagnerová
Aus dem Tschechischen von Kristina Kallert
Wallstein Verlag, 416 Seiten, 32 Euro
ISBN 978-3-8353-3827-2
Mörike-Preis 2024 „Ein besessener Mitteleuropäer“ – Jaroslav Rudiš erhält den Mörike-Preis der Stadt Fellbach
Der tschechische Autor Jaroslav Rudiš pendelt zwischen Prag und Berlin und reist mit der Bahn quer durch Europa. Die Geschichten, die ihm in Kneipen und Bahnhöfen begegnen, finden sich in seinen Erzählungen wieder.
Porträt zum 100. Todestag Der Schriftsteller Franz Kafka und die Faszination des Abgründigen
Kafkas Texte faszinieren durch das Abgründige, das in seinen Romanen und Erzählungen über das Individuum in einer immer komplexeren Welt aufscheint.
Zeitwort 28.05.1963: Die Kafka-Konferenz in Prag endet
An Franz Kafka haben sich Generationen von Schülern und Studenten die Zähne ausgebissen. Und auch die kommunistischen Staaten des Ostblocks waren ratlos.
Buchkritik Egon Bondy – Die ersten zehn Jahre
Was für wilde Zeiten: Im Prag der Nachkriegszeit sucht eine junge Künstler-Generation nach neuen Ausdrucksmitteln und einem freien Leben, inmitten stalinistischer Verfolgung. Im Zentrum: Egon Bondy, der Star der Untergrundliteratur. Seine Jugenderinnerungen „Die ersten zehn Jahre“ schildern diese Zeit des Aufbruchs.
Aus dem Tschechischen von Eva Profousová
Guggolz Verlag, 236 Seiten, 23 Euro
ISBN 978-3-945370-41-4
Mehr Krimis
Gespräch Letzter Band der Gereon-Rath-Krimis von Volker Kutscher erscheint: „Ich wollte zum Wachsein aufrufen“
Volker Kutscher über den jüngsten und letzten Band seiner Krimi-Reihe um den Kommissar Gereon Rath, der in den letzten Jahren der Weimarer Republik und in der Nazi-Zeit vor 1939 Mordfälle aufklärt.
Kolumne Dürfen Knastis lieben? Die Liebe im Kriminalroman
Gibt es romantische Liebe im Kriminalroman? Ein Blick in Geschichte und Gegenwart der Kriminalliteratur zeigt: Vor allem Ermittler dürfen lieben. Eine Kolumne von Sonja Hartl.
Literatur Ein Öko-Thriller als Heimatroman: „Black Forest“ von Wolfgang Schorlau
Er schreibt nicht einfach nur spannende Krimis – dem Stuttgarter Autor Wolfgang Schorlau geht es immer ums große Ganze. Um Wirtschaft und Politik, den Staat und die Gesellschaft. Dabei recherchiert Schorlau seine Sujets vorher lange und penibel. Investigativ auch, wie ein guter Detektiv. „Black Forest“, sein 11. Dengler Krimi spielt im Schwarzwald. Beginnt beschaulich wie ein Heimatroman und wird allmählich zum Öko-Thriller. Bis zum Showdown auf dem Feldberg.
Mehr aktuelle Literaturthemen
lesenswert Magazin „Chronik des eigenen Atems“ von Serhij Zhadan und andere neue Bücher
Dieses Mal im lesenswert Magazin: Bücher von Anne Tyler, Cemile Sahin, Doris Vogel, Martin Becker, Tabea Soergel und einem Gespräch über ein unerwünschtes Fest zum 50. Geburtstag