In „Das Haus in dem Gudelia stirbt“ entwirft Thomas Knüwer ein spannendes Unheilsszenario – und erzählt von einer Frau, die seit dem Tod ihres Kindes alles verloren hat.
Die Anwohner sind längst gegangen. Sie fliehen vor dem Hochwasser. Nur eine nicht: Die 81-jährige Gudelia harrt aus in ihrem Haus. Sie will es nicht den drohenden Fluten überlassen, nicht dem Durcheinander danach.
Gudelia – das wird in Thomas Knüwers Kriminalroman von Anfang an deutlich – hat etwas zu verbergen. Was genau? Das erzählt Knüwer auf drei Zeitebenen: Im Jahr 1984 stirbt Gudelias 15-jähriger Sohn Nico, nachdem er mit Schulfreunden auf einer Party war. Im Straßengraben findet sie ihn. „Schwuchtel“ steht auf seinem Unterarm mit Edding geschrieben.
Vierzehn Jahre später – also 1998 – zerbricht ihre Ehe. Ihr Ehemann hat schon immer viel getrunken. Aber seit dem Tod seines Sohnes hat er kaum etwas anderes gemacht. In der Erzählgegenwart 2024 setzt das Hochwasser ein. Gudelia bewacht ihr Haus und sieht in der Nacht die Leichen zweier Menschen, deren Hände mit Kabelbindern gefesselt sind.
Psychogramm einer trauernden Frau
Dieser Kriminalfall um die zwei gefesselten Menschen wird in „Das Haus in dem Gudelia stirbt“ eher beiläufig abgehandelt, er wäre auch nicht nötig gewesen: Die Vergangenheit ist spannend genug. Man ahnt zwar früh, was Gudelia verbirgt. Das gesamte Ausmaß überrascht aber doch.
Gudelias Tun wird mit zu vielen unnötigen Details geschildert, die für einige Seiten das zuvor gekonnt gehaltene Erzähltempo verlangsamen. Der Wunsch, alles zu erklären, nimmt dem Wahnsinn Gudelias die verzweifelte Unerbittlichkeit. Überwiegend aber gelingt es Knüwer, mit knappen Sätzen und präzisen Beobachtungen Atmosphären und Szenen entstehen zu lassen.
Horror in der Provinz
Mit klug gewählten Details entwirft Knüwer Gudelias Leben in dem fiktiven kleinen Dorf Unterlingen, irgendwo im Süden Deutschlands. Mit einer Zeitung namens „Donau-Nachrichten“, ein bisschen Landwirtschaft, einer Kirche und einem Pferdehof. Gudelia dachte, sie weiß, wie es sein würde, mit Mann und Kind alt zu werden. Nicos Tod hat alles erschüttert.
Das spiegelt sich in der bündigen Erzählweise, den zwischen den Jahren wechselnde Kapiteln und den kurzen, bruchstückhaften Passagen, die zugleich eine dräuende Spannung aufbauen. Knüwer, gelernter Journalist und Inhaber einer Digital- und Kreativagentur, erkennt eine Pointe, wenn sie sich bietet, strapaziert sie aber nicht über. Vielmehr durchbricht er damit für einen Moment das schleichende Grauen dieses Dorfhorrorromans.
Das Szenario, das Thomas Knüwer entwirft, ist erschreckend nah an der Realität, nicht nur eines Lebens in einem Dorf. Erst im Sommer gab es Hochwasser in Süddeutschland. Die Bilder von Wassermassen, überfluteten Häusern und zerstörten Gebäuden übermitteln aber nicht den bestialischen Gestank, der sich durch überflutete Gebiete zieht.
In Unterlingen entstanden durch Schweinekadaver, Dreck und übergelaufene Kanalisation. Für Gudelia ist dieser Gestank eine Waffe. Er hält unerwünschte Eindringlinge fern. Doch gegen das Wasser gibt es kein Mittel. Unerbittlich dringt es in jede Ritze des Hauses ein. Und spült in diesem packenden Kriminalroman die ganzen dreckigen Geheimnisse nach oben.
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