Bericht mit O-Tönen von Roman Rozina, Drago Jančar und Ilma Rakusa

Literatur aus Slowenien, dem Gastland der Frankfurter Buchmesse 2023

Stand
Autor/in
Holger Heimann

Slowenien ist das Gastland der Frankfurter Buchmesse 2023. Holger Heimann war dort unterwegs und hat die Autoren Roman Rozina und Drago Janćar getroffen. Sie erzählen, wie die bewegte Geschichte ihres Landes die Gesellschaft bis heute prägt – und polarisiert. Die beiden Autoren schauen unvoreingenommen auf die slowenische Vergangenheit. Ihre Romane sind Plädoyers für einen produktiven Umgang mit der Geschichte.

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Das Flussufer der Drau in Maribor ist eine Baustelle. Die zweitgrößte Stadt Sloweniens in der Südsteiermark putzt sich heraus. So schick und bei Touristen beliebt wie die Hauptstadt Ljubljana ist Maribor nicht, aber es gilt vielen als die dynamischste und lässigste Stadt des Landes. Und es ist eine Stadt mit Geschichte.

Die Konflikte des 20. Jahrhunderts auf kleinstem Raum

Drago Janćar, der bekannteste lebende Autor Slowenien wurde 1948 in Maribor geboren. Er lebt mittlerweile in Ljubljana, in seinen Büchern kehrt er jedoch immer wieder nach Maribor zurück.

Maribor ist für mich ein magischer Raum geworden. Aber wenn ich dort leben würde, könnte ich nicht darüber schreiben. Es ist ein Ort, der mit der Phantasie verbunden ist, ein Ort, wo sich Realität und Phantasie treffen. Als Schriftsteller bin ich davon überzeugt, dass die Vergangenheit immer auch unsere Gegenwart beeinflusst, deswegen bin ich auch so von der Geschichte besessen. Maribor sehe ich als einen europäischen Mikrokosmos, wo sich alle Konflikte des 20. Jahrhunderts auf kleinstem Raum abgespielt haben.“ (Drago Jančar)

Die Grenzstadt im Osten Sloweniens, die zur österreichisch-ungarischen Monarchie gehörte, war lange geprägt durch ein gedeihliches Miteinander von deutschsprachigen und slowenischsprachigen Einwohnern. Doch immer radikalere nationalistische Bestrebungen machten im 20. Jahrhundert aus Nachbarn Feinde. Drago Janćar interessiert sich dafür, was mit Menschen geschieht, die am Rand von historischen Ereignissen stehen. In seinem jetzt neu aufgelegten, düsteren Roman „Nordlicht“, der im Original bereits 1984 erschien, erzählt er von einer zerrissenen und gewaltbereiten Bevölkerung am Vorabend des Zweiten Weltkriegs. In seinem vielleicht anrührendsten Roman „Wenn die Liebe ruht“ blickt er auf die Folgen der deutschen Okkupation Sloweniens.

„Viele haben erwartet, dass das alte Österreich mit seinem gemütlichen Alltag zurückkehrt. Aber bald erkannte man, dass nicht das alte Österreich zurückgekommen ist, sondern dass man es mit der Gestapo zu tun hat.“ (Drago Jančar)

Literarische Auseinandersetzungen mit der „verdammten Geschichte“

Nicht nur Drago Janćar, auch andere Schriftsteller sind häufig geradezu besessen von der Vergangenheit. Osteuropäische Autoren sind und waren es vielleicht noch mehr. Die Autorin und Übersetzerin Ilma Rakusa, eine der besten Kennerinnen der Literatur der Region, erinnert sich in diesem Zusammenhang an eine vielsagende Bemerkung des 1989 verstorbenen, großen jugoslawischen Schriftstellers Danilo Kiš.

„In einem seiner Essays sagt er, übrigens sehr vorwurfsvoll und bedauernd. Warum können wir uns hier auf dem Balkan keine Liebesromane leisten? Warum gibt es bei uns nicht Flaubert und Proust und so weiter? Weil wir uns immer mit der verdammten Geschichte auseinandersetzen müssen.“ (Ilma Rakusa)

Mit der verdammten Geschichte setzt sich auch der Schriftsteller Roman Rozina auseinander. Er hat einen monumentalen Roman geschrieben, der das ganze 20. Jahrhundert mit all seinen Verwerfungen in den Blick nimmt.

Roman Rozinas monumentaler Roman „Hundert Jahre Blindheit“

Für „Hundert Jahre Blindheit“, so der Titel, wurde er 2022 mit dem wichtigsten Literaturpreis Sloweniens, dem Kresnik-Preis ausgezeichnet. Rozina, geboren 1960, stammt aus einer alten Bergbauregion, aus Zagorje, eine Autostunde östlich von Ljubljana. Wie Gabriel García Márquez in seinem Roman „Hundert Jahre Einsamkeit“, der Rozina als Vorbild diente, so lässt sich auch „Hundert Jahre Blindheit“ als Porträt der Heimat des Autors lesen. Anders als García Márquez erzählt Rozina jedoch streng chronologisch und im durchgängig realistischen Stil. Die erste Jahrhunderthälfte gerät dabei farbiger als die sozialistische Periode und die Transformation der 90er Jahre. Die Familie Knap, die im Mittelpunkt steht, erlebt Aufstieg und Niedergang der Kohleförderung, vor allem aber auch die großen politischen Umbrüche des 20. Jahrhunderts. Die Knaps sind jedoch zu verstrickt in ihre Zeit, um ihre Lage zu überblicken. Für den blinden Matija, den stillen Helden des Romans, erwächst daraus ein Unbehagen.

Mich verwirren die vielen Wechsel, ständig verändert sich etwas. ... Ich fühle mich ganz hilflos, weil ich mir vergeblich ein Bild zu machen versuche, das den Raum irgendwie eingrenzt, mir zumindest ein wenig Gewissheit bietet, eine Marschroute. Dieser ständige Wandel legt sich wie dichter Nebel über das einmal Erkannte und verdeckt es, löscht aus, was gesichert war. (aus: Roman Rozina: „Hundert Jahre Blindheit“)

Während Matija sich abseits hält, versuchen seine Geschwister einzugreifen in die Zeitläufte. Allesamt sind sie bestimmt vom Syndrom ihrer Sippe, wie es einmal heißt, „Dinge zu regeln, Systeme zu verändern, Gerechtigkeit herzustellen“. Rozina lässt Matijas Geschwister jedoch allesamt scheitern.

„Matijas Geschwister sind gefangen in ihrem Denken, ihren Bestrebungen. Matija ist der einzige, dem es gelingt, sich zwischen diesen Meinungen zu bewegen, er ist den Dingen gegenüber offener als die anderen. Seine Anschauungen sind manchmal ein bisschen kindlich naiv, aber trotzdem ist er derjenige, der als einziger neue Denkwege findet, was uns allen oft schwerfällt.“ (Roman Rozina)

Roman Rozina erzählt auch davon, wie die Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg zu politischen Zwecken unterschiedlich interpretiert und instrumentalisiert wird. Das geschieht in Slowenien bis heute und sorgt für erbitterte Dispute. Der Roman, der auch als Kommentar zur Gegenwart gelesen werden kann, führt die Resultate ideologisch verordneter Blindheit eindrücklich vor. Indem Rozina verschiedene, stets einseitige Positionen unkommentiert nebeneinanderstellt, wird das, was jeweils außer Acht bleibt, um so kenntlicher.

„Ich denke, dass die slowenische Gesellschaft tief gespalten ist. Einige pflegen eine heftige, ja unkritische Zuneigung zum sozialistischen Regime, andere wiederum einen ebenso starken blinden Hass. Im Grunde denke ich, dass wir große Schwierigkeiten damit haben, uns in ein kritisches Verhältnis zur Vergangenheit zu setzen, entweder sind wir begeistert oder entsetzt. Wir mögen Etiketten.“ (Roman Rozina)

Sloweniens Gesellschaft ist polarisiert

Vor allem die Frage, wer sich im Zweiten Weltkrieg und unmittelbar danach wie positioniert hat, beschäftigt Slowenien bis heute und trägt zur starken Polarisierung der Gesellschaft bei. Drago Janćar hat sich wie kaum ein Zweiter mit den dunklen Seiten der slowenischen Geschichte beschäftigt. Gegenwärtige Debatten über die Vergangenheit sieht er jedoch kritisch. Sie werden in seinen Augen häufig nur aus politischen Gründen initiiert.

„Teile der Politik haben ein Interesse daran, dass darüber immer wieder diskutiert wird, um nicht über die tatsächlichen Probleme zu sprechen, denen wir uns stellen müssen.“ (Drago Jančar)

Drago Janćar und Roman Rozina schauen unvoreingenommen auf die slowenische Vergangenheit. Ihre Romane sind Plädoyers für einen produktiven Umgang mit der Geschichte ihres Landes.

Bücher:

Drago Janćar: „Nordlicht“, aus dem Slowenischen von Klaus Detlef Olof, Folio Verlag, 272 Seiten, 24 Euro

Drago Janćar: „Wenn die Liebe ruht“, aus dem Slowenischen von Daniela Kocmut, Hanser Verlag, 400 Seiten, 25 Euro

Roman Rozina: „Hundert Jahre Blindheit“, aus dem Slowenischen von Alexandra Natalie Zaleznik, unter Mitarbeit von Tamara Kerschbaumer und Peter Scherber, Klett-Cotta Verlag, 582 Seiten, 28 Euro   

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Piper Verlag, 224 Seiten, 16 Euro
ISBN 978-3-492-27750-1

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Autor/in
Holger Heimann