Kann Geschichte sich wiederholen? In ihrem Buch „Kalte Füße“ beantwortet Francesca Melandri diese Frage mit „Ja“. Die Tochter eines Kommandeurs der Gebirgsjäger, 1942 stationiert bei Charkiw in der Ukraine, sieht Putin als Wiedergänger Mussolinis und Hitlers, an gleicher Stelle mit der Vernichtung befasst. Melandris Buch ist ein dramatisches Zwiegespräch mit dem Vater und eine kluge Abrechnung mit der russlandfreundlichen Linken in Italien.
Francesca Melandri stellt in ihrem Buch viele kluge Fragen über Krieg und Frieden, aber über allem steht die Überlegung, ob sich Geschichte tatsächlich wiederholen kann. Melandri sagt: „Ja“.
Zum Beweis zeichnet sie in ihrem Buch „Kalte Füße“ frappierende Parallelen nach, die sie zwischen dem Faschismus des 20. und des 21. Jahrhunderts erkennt, wenn man die Ukraine in den Blick nimmt. Erst kamen die Nazis, dann Putin, der seinen Krieg groteskerweise als Feldzug zur Entnazifizierung der Ukraine tarnt.
Was ist Faschismus?
„Was ist Faschismus?“, fragt Melandri den italienischen Widerstandskämpfer Massimo Rendina:
Melandri hat weite Teile ihres Buches in der Form eines Zwiegesprächs mit ihrem verstorbenen Vater Franco verfasst. Aber was soll ein anständiger Faschist sein? Rendina war 1942 mit dabei, als Franco Melandri als Kommandeur einer Truppe so genannter „Gebirgsjäger“ in der heutigen Ukraine gegen die Russen kämpfte.
Die „Alpini“ waren Verbündete Nazideutschlands. Rendina stieg aus. Melandri blieb dabei, erkrankte schwer und wurde in Rom als Journalist beim Faschistenblatt „Gazzetta del Popolo“ eingesetzt. Dort trafen sich die beiden wieder: Rendina fungierte als Spion der Partisanen, Melandri schrieb seine Artikel, die mitunter neben der Tageslosung von Goebbels standen. Aber der Vater hat Massimo Rendina nicht verraten.
Licht- und Schattenseiten eines Vaters
Francesca Melandri liebt ihren Vater sehr. Der literarische Teil ihres Buches behandelt Konflikt und Qual einer Tochter, die mit dem Unterschied klarkommen muss, was der Vater für sie war und was er in der Welt draußen womöglich angerichtet hat. Seite für Seite folgen wir der Autorin in ihrer steigenden Verzweiflung.
Melandri fährt in die Ukraine, um zu den Orten zu recherchieren, an denen ihr Vater Krieg führte. Wir kennen ihre Namen aus den Nachrichten: Isjum, Charkiw, Mykolajiwka. Für seinen Einsatz in Mykolajiwka erhielt Franco Melandri einen Tapferkeitsorden in Silber.
Die Tochter, so lesen sich ihre hochemotionalen Ausführungen zum Krieg dort heute, ist entschlossen, vielleicht auch stellvertretend für den Vater, dieses Mal auf der richtigen Seite zu stehen. Die Russlandfreunde unter den Linken sind ihr suspekt geworden.
Der Wolpertinger unter den Büchern
„Kalte Füße“ ist eine rasante Mixtur vieler Textformen. Neben der Zwiesprache mit dem Vater, gibt es kluge essayistische Passagen, zum Beispiel über Hartnäckigkeit und Heldentum, eine Nacherzählung der Familiengeschichte der Melandris, Protokolle, Reportagen, historische Ausführungen, etwa zu einem sibirischen Lager, in dem einst Solschenizyn gefangen war und heute russische Deserteure eingesperrt sind.
Eine Tragödie, die sich als Farce wiederholt
Der Titel „Kalte Füße“ bezieht sich auf zwei Dinge: einmal konkret auf die nahezu erfrorenen Füße der italienischen Gebirgsjäger 1942 in der Ukraine und zum anderen auf die symbolisch kalten Füße der Westeuropäer, gegen Putin Partei zu ergreifen.
Geschichte wiederholt sich, so Francesca Melandris Grundthese. Und mit dieser Ansicht ist sie nicht allein. „Hegel bemerkte, dass alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich zweimal ereignen“, schreibt Karl Marx im Jahr 1852 Hegel habe aber „vergessen, hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce.“
Mehr zu Autorin Francesca Melandri
Mehr Literatur italienischer Autorinnen
Buchkritik Raffaela Romagnolo – Dieses ganze Leben
Paolas Familie ist reich, hat Villa, Pool und Nanny. Ihre Mutter lässt Paola oft genug spüren, dass sie mit ihren dicken Oberschenkeln, genau wie ihr Bruder Richi, der im Rollstuhl sitzt, kein wahr gewordener Elterntraum ist. Eindringlich erzählt Raffalla Romagnolo vom Hassen und Akzeptieren des eigenen Körpers und von einem dunklen Familiengeheimnis.
Rezension von Maja Pfeifle.
Aus dem Italienischen von Maja Pflug
Diogenes Verlag, 272 Seiten, 22 Euro
ISBN 978-3-257-07144-3
Buchtipp zur Frankfurter Buchmesse 2024: Gastland Italien Ein zeitloses Meisterwerk der italienischen Literatur – Maria Messinas Roman „Das Haus in der Gasse“
Maria Messina hat mit „Das Haus in der Gasse“ einen sprachlich so makellosen Roman geschrieben, dass man mit jeder Zeile das Gefühl hat, Weltliteratur zu lesen.
Buchkritik Maria Attanasio - Der kunstfertige Fälscher
Sizilien, zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Kaum ein Landstrich in Italien war rückschrittlicher, nirgends war die Armut dramatischer, doch um 1920 landeten plötzlich nagelneue 500-Lire-Scheine auf den Küchentischen der Mittellosen. Wer dahinter steckte? Ein begabter Künstler, der endlich seine Berufung gefunden hatte. Die sizilianische Schriftstellerin Maria Attanasio erzählt in ihrem Buch "Der kunstfertige Fälscher" die wahre Geschichte des Paolo Ciulla.
Rezension von Maike Albath.
Aus dem Italienischen übersetzt von Michaela Wunderle und Judith Krieg.
Edition Converso, Bad Herrenalb 2020, 220 Seiten, 18 Euro
ISBN 978-3-9819763-7-3