Von Putins unaufhaltsamen Aufstieg und einem Schriftsteller, der zu seinem Gegenspieler wird erzählt Viktor Jerofejew in seinem neuen Roman. „Aufzeichnungen über das lebende und das tote Russland“ hat er „Der Große Gopnik“ im Untertitel genannt. Darin geht es auch um einen Krieg, der in der Ukraine und im Innern der Menschen tobt. Ein turbulenter und imposanter Roman über das Drama des heutigen Russland.
Ein Gopnik – das ist im Russischen ein Halbstarker, der Proll aus dem Hinterhof, ein Rowdy. Ein Typ, der den anderen aus eigenen Minderwertigkeitskomplexen heraus eins auswischen will. Er wird es nie zu etwas bringen – außer mit Gewalt. Einer dieser Gopniks hat es mit seinen Mitteln ganz bis nach oben geschafft: Wladimir Putin. So sieht es jedenfalls der russische Schriftsteller Viktor Jerofejew. Putin sei der Gopnik aller Gopniks, der Große Gopnik, der neue Zar eines scheintoten Imperiums.
„Ich lebte über zwanzig Jahre lang in seinem Russland und möchte das Wort »Gopnik« als Schlüssel zu seinem Verständnis international in Umlauf bringen. Alle wissen, was ein Sputnik ist – möge sich nun also der Gopnik hinzugesellen.
Millionen von Gopniks in Russland verstehen den Großen Gopnik und halten ihn für einen der Ihren.
Er ist zu einer Volksikone geworden.
Die Erfolge lassen in ihm mystische Selbstmordgedanken entstehen. Der neue Herostratos, er wird sich selbst und die ganze Welt umbringen.“
Russlands Krieg gegen die Ukraine wird zum Zentrum des Romans
Deutlicher kann eine Abkehr von Russlands autokratischem System kaum aussehen als die Viktor Jerofejews. In seinen Büchern, in Artikeln, in Interviews hat er sich in den letzten Jahren mit Kritik an Putin nicht zurückgehalten, er ist, aus Verzweiflung über den Kadavergehorsam der Russen, in Sarkasmus verfallen. Aber mit seinem neuen Roman „Der Große Gopnik“ hat er seinen Widerspruch und seine Abscheu in ein monumentales Kunstwerk verwandelt, das vielleicht nicht in jeglicher Hinsicht gelungen, aber doch von einer wütenden Kraft und immensen Hellsicht ist. „Der Große Gopnik“ wirkt nicht wie ein Buch aus einem Guss. Man merkt, dass dem Autor der unvorstellbare Krieg gegen die Ukraine dazwischengekommen ist, dass dieser Krieg aber in den Roman hineinmusste, weil er die letzte Konsequenz dessen ist, was Jerofejew in Putin sieht. Der 24. Februar – immer wieder taucht dieses Datum auf. In kursiver Schrift zwängt sich der Krieg als Nachtrag zwischen die Zeilen, und er wird zum Zentrum des Romans oder zum apokalyptischen Endpunkt, auf den alles zuläuft.
„24. Februar
Der Krieg ist nicht außerhalb von mir – er ist in mir. Im Hirn nicht ein einziges Eckchen, wo man sich verstecken, sich verkriechen kann. Trümmerhaufen der Erinnerung – Städte in Trümmern. Ich bin krank vom Krieg. Der Krieg ist krank von mir. Das Buch ist krank vom Krieg. Dies ist ein krankes Buch.“
Eine Schelmenfigur steht für ein anderes Russland
Jerofejew erzählt vom unaufhaltsamen Aufstieg des Wladimir Wladimirowitsch Putin. Und von dessen Gegenspieler – von sich selbst, einem Schriftsteller namens Viktor Jerofejew, der einer Schelmenfigur gleicht, überall mittendrin und doch außen vor ist, waghalsig und klug. Er verkörpert ein anderes Russland. Mit dem Autor teilt dieser Held die Eltern, veröffentlichte Bücher, Sprachen und Lebenslinien – „Der Große Gopnik“ setzt damit fort, was Jerofejew in „Der gute Stalin“ begonnen hat, eine literarische Autobiographie. Der echte Viktor Jerofejew sowie der im Buch ist der Sohn eines Übersetzers und Diplomaten, wächst auf in Paris, die Mutter ist exzentrisch, seine Haltung kosmopolitisch. Er mischt mit, und wahrt zugleich Distanz, auch zu seinen Schriftstellerfreunden, mit denen er 1979 die folgenreiche Anthologie Metropol herausgibt, die politisch skandalisiert wird.
„Ich befand mich irgendwo in der Mitte. Als Sohn eines sowjetischen Botschafters war ich von meiner Herkunft her der Klassenfeind (…). Andererseits war ich der einzige Europäer bei Metropol, verheiratet mit der polnischen Schönheit Wesława, sprach mehrere Sprachen und kannte den Westen nicht nur vom Hörensagen.
Ich liebte den realen Westen, mit all seinen schönen und fehlerhaften Seiten, nicht den Westen als irdisches Paradies, als der er sich meinen aufsässigen Metropol-Freunden darstellte.“
Und doch ist dieser Viktor ein Kunstcharakter. Immer wieder verschwimmen die Grenzen zwischen Realität und – ja – Hyperrealität. Die Zuspitzung liegt hier in der Natur des Textes. Das Schriftsteller-Ich wird zum Antipoden und Opfer Putins. Diesem kleinen Tschekisten ohne Manieren, der von einem trunksüchtigen Präsidenten zum Nachfolger erkoren wurde, hätte kaum jemand so viel Machtbewusstsein zugetraut. Weil er seine eigenen narzisstischen Kränkungen zum politischen Programm macht, wird er zum Vorbild der angeblich gedemütigten russischen Volksseele. Die beiden, der Große Gopnik und der in allerlei Händel verstrickte Schriftsteller Viktor, begegnen sich auf ihren Wegen immer wieder; andere Potentaten und Schriftsteller treten auf und ab, man kann sie allesamt in der Wirklichkeit wiederfinden. Viktors Schwester O., die mittels Pornografie dem Unterbewussten der Russen auf die Spur kommen will und später einen Faschisten heiratet, bringt ihren Bruder in zahlreiche Bredouillen.
Ein turbulenter und im besten Sinne zusammengestückelter Roman
Die Eltern tauchen aus dem Jenseits auf, und der „Kleine Nächtliche Stalin“ spukt durch die Geschichte, plaudert mit seinem Nachfolger und lächelt diabolisch. Es ist ein zusammengestückelter Roman, aber das im besten Sinne: Autofiktionale Erzählungen werden von essayistischen Passagen abgelöst, absurde Wendungen verwandeln sich in politische Analysen, es mangelt nicht an pornografischen und drastischen Szenen. Komisches und Skurriles gibt es zuhauf. Die Perspektiven wechseln hin und her, und so geht es turbulent durch 600 Seiten.
Eine Figur, die eine besondere und besonders obskure Rolle spielt, heißt Stawrogin. Eine graue Eminenz, ganz nahe am Machtpol sitzend – der Chefideologe des Kreml und ein Möchtegern-Dichter.
„Die gesamte Intelligenzija hasste damals Stawrogin. Er war der junge Vater der nationalen Perversion. Über niemanden sonst im Land erzählten sich Intellektuelle und Oppositionelle größere Gemeinheiten. Er hatte etwas von der Schönheit jenes Stawrogin (…)
Faszinierende Figur eines machtbewussten Chefberaters im Kreml
Jener Stawrogin, das ist Dostojewskis Anti-Held Nikolai Stawrogin aus den „Dämonen“, ein abstoßender, dämonischer, zerstörerischer Charakter. Das reale Vorbild Stawrogins in Viktor Jerofejews Roman ist Wladislaw Surkow – ein Geschäftsmann und Politiker, bis 2020 Chefberater Putins, ein Strippenzieher und die dritte Macht im Staat. Schreibt Jerofejews Stawrogin gar nicht mal so schlechte Gedichte, so hat der reale Wladislaw Surkow einen Roman veröffentlicht, dem Jerofejew in einer Rezension in der FAZ „literarischen Schwung“ attestierte.
Dieser Surkow ist eine faszinierende Gestalt – er hat schon Giuliano da Empoli zu seinem Roman „Der Magier im Kreml“ inspiriert. Bei Jerofejew ist er ein merkwürdiger, höchst intelligenter und gefährlicher Machtmensch, mit Zugang zum abgrundtief Bösen und der Fähigkeit, alle Spiele zu durchschauen und Intrigen zu spinnen. Jerofejew dringt nicht nur bei dieser Figur tief in das System aus Misstrauen und Verrat, grausamer Machtgier und Psychospielen ein – auch der Charakter des Großen Gopniks wird bei Jerofejew minutiös seziert. Man hat nach der Lektüre dieses imposanten Romans das Gefühl, das Drama des heutigen Russlands ein bisschen besser verstehen zu können. Aber zur Beruhigung trägt dieses Buch nicht bei.