Mein sechsjähriger Sohn ist stolz: Endlich wackelt der erste Zahn! Jeden Tag fummelt er daran herum, prüft, ob er denn nun bald draußen ist, fiebert der Zahnfee entgegen. Ich freue mich mit ihm und ziehe direkt literarische Querverbindungen im Kopf. Helene Bukowskis „Milchzähne“ habe ich 2019 zum ersten Mal gelesen und jetzt erneut zur Hand genommen.
Helene Bukowskis „Milchzähne“ als Hörbuch
Darum geht es in „Milchzähne“
Der Roman spielt in einer vielleicht gar nicht fernen Zukunft. Skalde ist fünfzehn oder sechzehn Jahre alt und lebt mit ihrer Mutter Edith in einem alten Haus am Rande eines Waldes. Mutter und Tochter leben in einer Gemeinschaft von Außenseitern. Es ist eine archaische, abergläubische kleine Gruppe mit eigenen Gesetzen.
Skalde wird halbwegs akzeptiert, Edith nicht. Als Skalde im Wald ein kleines Mädchen findet und aufnimmt, drohen die anderen Bewohner des Ortes, die Kleine umzubringen. Keiner weiß genau, woher das kleine Mädchen Meisis kam, aber da sie rote Haare hat, halten die Dorfbewohner sie für teuflisch. Groß ist ihre Angst vor dem Fremden, dem „Wechselbalg“ mit den seltsamen Haaren.
Buch der Woche vom 10.6.2019 Bizarr, surreal, beklemmend: Helene Bukowski: Milchzähne
Eine Dorfgemeinschaft, die sich nach einer Katastrophe vom Rest der Welt abschottet, wird zum Sinnbild für den gesellschaftlichen und meteorologischen Klimawandel unserer Zeit.
Doch Skalde schützt Meisis und macht den Dorfbewohnern ein Angebot. Skalde will zeigen, dass Meisis kein „Wechselbalg“ ist, denn dann hätte sie keine Milchzähne. Wenn das Kind also nicht innerhalb von einem halben Jahr ihre Milchzähne verliert, wird Skalde die Kleine freiwillig ausliefern.
Die Geschichte wird von der fast erwachsenen Skalde in Rückblicken erzählt. Sie erinnert sich an einen entscheidenden Moment ihrer Kindheit, als sie ihren ersten Milchzahn verliert und beginnt, sich von ihrer Mutter zu entfremden. Die Milchzahn-Metapher zieht sich durch den Roman.
Eine schaurige und faszinierende Welt
Es ist eine dystopische Welt, die Helene Bukowski in ihrem Debüt beschreibt. Zu Recherchezwecken hat die Autorin wochenlang in einer einsamen Hütte in Niedersachsen gewohnt, sich in die Einsamkeit hineingefühlt. Der Roman ist düster und beklemmend und auch der Film trifft diese Stimmung sehr gut.
Regisseurin Sophia Bösch zeigt die seltsame Dorfgemeinschaft, in der eiserne Gesetze gelten, als schaurige, aber auch faszinierende Welt. Dass sie dabei auf direkte Anspielungen auf unsere Gegenwart verzichtet, ist klug. Das Publikum kann so selbst Parallelen zu Fremdenfeindlichkeit und Abschottung entdecken, wenn es denn will.
Buch und Film: Kommentare zur krisenhaften Gegenwart
Der Roman „Milchzähne“ handelt davon, wie man sich selbst findet, aber auch von der Verantwortung gegenüber der Umwelt. Die Dystopie, die Bukowski zeichnet, ist eine verstörende Vision von einer Welt, die durch menschliches Versagen in eine Krise geraten ist.
Dadurch sind Buch und Film Kommentare zu unserer krisenhaften Gegenwart. Gerade als Elternteil sind diese Themen wichtig und Anlass, darüber nachzudenken, welche Welt wir unseren Kindern hinterlassen. Buch und Film sind lesens- und sehenswert, wenn auch keine leichte Kost.
Das Thema Klimakatastrophe nimmt im Film viel weniger Raum ein als im Roman. Während im Buch der Sommer nie endet, die Sonne Felder und Haut verbrennt, wird die kaputte Natur im Film nur am Rande erwähnt.
Stattdessen konzentriert sich der Film stärker auf die schwierige Beziehung von Skalde und Edith und auf die innere Zerrissenheit der Figuren.
„Milchzähne“ anhören in der ARD Audiothek
Wenn mein Sohn an seinem Wackelzahn rumzuckelt, diesem ersten, kleinen Symbol von Wandel und Erwachsenwerden, dann denke ich daran, in was für einer Welt er wohl einmal leben wird, wenn er keine Milchzähne mehr hat. Und ich hoffe, dass seine Zukunft mit der in Buch und Film beschriebenen, nichts gemeinsam hat.