Ramón soll ein Cola-Plakat bewachen, Tag und Nacht. Weil der Job so sinnlos scheint, wie er schlecht bezahlt wird, zieht er gleich ganz auf das Gerüst. Zusammen mit seinem elfjährigen Neffen beobachtet er von oben die Hektik der Welt unten. Die kluge Geschichte eines ungewöhnlichen Helden.
Eines Montags kletterte Ramón auf das Gerüst mit dem Coca-Cola-Plakat an der Ausfallstraße, und als am Abend die Sonne hinter den Hügeln rings um die Häuser der Siedlung unterging, beschloss er, für immer dort oben zu bleiben. (Maria Jose Ferrada - Der Plakatwächter)
Der Protagonist in Ferradas Roman „der Plakatwächter“ hat von seinem Arbeitgeber die Aufgabe bekommen das riesige Coca-Cola-Plakat am Ortseingang bewachen. Tag und Nacht. Und weil der Job so sinnlos anmutet, wie er mies bezahlt ist, zieht Ramon gleich ganz auf das Gerüst. Mit Sack und Pack.
Mithilfe eines selbstgebastelten Flaschenzugs schaffte er den Umzug in Rekordzeit – er brauchte keine vier Stunden, um die Möbel von seiner Wohnung aufs Gerüst zu befördern. Als er fertig war, sprach er ein paar Worte, die nur er selbst zu hören bekam, denn von dort oben hatte er nicht nur einen weiten Blick über die ganze Stadt, er war auch allein, genau wie er wollte. (Maria Jose Ferrada - Der Plakatwächter)
Von oben sieht die merkwürdige Welt unten gleich besser aus.
Narren und Kinder sagen immer die Wahrheit
Es ist ein berühmter Topos, den die Autorin Maria José Ferrada in leicht abgewandelter Form für Ihren Roman ausgewählt hat: „Der Eremit in den Bergen“ oder „der Narr auf dem Hügel“, der schon von den Beatles als „fool on the hill“ besungen wurde. Einer, der fern allen anderen, Tag für Tag dem verrückten Treiben der Menschheit zusieht.
Und weil Narren und Kinder immer die Wahrheit sagen, lässt die in Chile geborene Wahlberlinerin Ferrada, die auch viele Kinderbücher geschrieben hat, ihre Geschichte rückblickend aus der Sicht eines Kindes erzählen. Ein Kinderbuch ist der Roman dieses Mal nicht. Aber die Form gibt dem oft ins Philosophische abgleitenden Roman eine erfrischende Leichtigkeit: Aufzeichnungen eines Elfjährigen, vorgetragen von dem allwissenden Erzähler des Romans. Detailliert weiß dieser davon zu berichten, wie es sich abspielte, als Onkel Ramón, offenbar angewidert von der lauten, modernen Welt,- in die Lüfte stieg, um misstrauisch beäugt von seinen Mitmenschen, seinen neuen Job in einer improvisierten Plakatbehausung anzutreten.
Etwa um zehn ging auf dem Gerüst das Licht an, und zwar in dem Loch des großen O, das zusammen mit zwei kleinen Punkten das große Ö des weißen Schriftzugs » KÖSTLICH UND ERFRISCHEND « bildete, der sich über die Fahrertür des von einer Riesin gelenkten Coca-Cola-roten Cabrios zog. Das weiß ich noch, weil ich um diese Uhrzeit die Nachttischlampe in meinem Zimmer ausmachte. »Schlaf endlich, Miguel.« »Ja, Mama«, sagte ich. Aber statt zu tun, was Mama gesagt hatte, presste ich das Ohr an die Wand, um zu hören, wie Ramóns Geschichte weiterging.
Ist es Rückzug oder Protest? Wie so oft im Roman, wo ein Außenseiter sich durch vermeintlich absurdes Verhalten an den Rand der Gesellschaft begibt, wird wie im Brennglas deutlich, dass eigentlich die moderne Welt um Ramon herum absurd ist. Stellenweise wirkt der Roman in seiner zeitlosen Ästhetik wie ein tragisch-komischer Stummfilm mit Worten ohne Bilder. Der Stil: naiv und poetisch zugleich, einfache Worte für die großen, philosophischen Fragen.
Ein moderner Chaplin
Der Held selbst ist eher wortkarg und beobachtet lieber. Wie in Chaplins „Moderne Zeiten“ auf lustige Weise Kapitalismuskritik betrieben wird, liest man hier, wie ein Mensch dazu genötigt wird gegen schlechte Bezahlung, völlig verrückte Dinge zu tun. Ein Werbeplakat zu bewachen zum Beispiel. Im Roman wird das Absurde herrlich auf die Spitze getrieben.
Mittwoch. Ramón rief seinen neuen Chef an, um mitzuteilen, dass er beschlossen habe, sich ab sofort sieben Tage die Woche rund um die Uhr an seinem neuen Arbeitsplatz aufzuhalten. Sprach etwas dagegen? - Bei den ersten drei Versuchen landete er bei einem Anrufbeantworter, der ihn wissen ließ, dass unter dieser Nummer keine Nachrichten entgegengenommen wurden. Beim vierten Versuch meldete sich sein Chef, ein gewisser Eliseo:
»Damit wir uns verstehen, Raúl …«
– »Ramón…!«
»Damit wir uns verstehen, Ramón: Dein Job ist es, auf das Plakat aufzupassen. Du bist dafür verantwortlich, dass niemand die Scheinwerfer klaut. Wenn du deshalb da oben schlafen willst, ist uns das, ehrlich gesagt, egal – meinetwegen kannst du dich auch auf eine Wolke legen oder im Gebüsch verstecken.«
– »Okay, danke«,
»Wir haben zu danken, Raúl.« (Maria Jose Ferrada - Der Plakatwächter)
Ein Säulenheiliger auf dem Gerüst
Ramon, der Mann, von dem sein Chef sich noch nicht einmal den Namen richtig merken kann, wird auf dem Gerüst zum Säulenheiligen der kleinen Siedlung, die irgendwo in Lateinamerika liegen soll. Von den einen wird er bewundert, von den anderen für verrückt erklärt. Für Gesprächsstoff sorgt er allemal. Für seinen kleinen Neffen aber, der täglich heimlich zu ihm aufs Gerüst klettert, um dort oben mit ihm die Zeit totzuschlagen, ist Ramon ein wahrer Held.
Durch seinen Umzug hatte Ramón, der bis vor ein paar Wochen bloß der Mann meiner Tante gewesen war, sich in ein Zwischending aus Freund, Vogel und Lehrer verwandelt, eine Mischung, wie sie mir noch nie begegnet war und auch nie wieder begegnen sollte. (Maria Jose Ferrada - Der Plakatwächter)
In der Stille lernt man mehr als in der Schule
Mit seinem Onkel, dem Plakatwächter, kann er schweigend die Sterne beobachten und scheint in der Stille dort oben so viel mehr zu lernen über sich und die Welt, als in der stets unruhigen Denkfabrik „Schule“.
Die Schule bedeutete mir nichts, nicht das Geringste. Ich ging regelmäßig hin, das ja, setzte mich an meinen Platz, öffnete die Bücher und schrieb in die Hefte. ... Ein Lieblingsfach hatte ich nie, meine Lieblingsuhrzeit war dafür der Moment, in dem der Schultag zu Ende war. Ich war kein beispielhafter Schüler, aber ein gutes Beispiel dafür, was man unter einem Schüler versteht. (Maria Jose Ferrada - Der Plakatwächter)
Es sind kleine Weisheiten wie diese, die das Buch so liebenswert machen und dem gleich am Anfang ein Motto vorangestellt ist:
Gegen alles bessere Wissen wollte ich Glück. (Maria Jose Ferrada - Der Plakatwächter)
Dieses Zitat aus Günter Grass‘ die Blechtrommel findet sich statt eines Vorworts auf den ersten Seiten des Romans. Eine Hommage an den berühmten deutschen Autor. Auch Ferradas Geschichte trägt wie Grass‘ Blechtrommel, deutliche Züge eines Schelmenromans. Ramon, der Held, kommt aus einer sozial schlechter gestellten Arbeiterschicht, ist vermeintlich ungebildet, aber trotzdem auf seine Art schlau und thematisiert allein durch sein Dasein, die Missstände der Gesellschaft.
Von hier oben zeigte das Leben einem seine durchsichtigen Fäden. Manchmal war es schön, ihrem Hin und Her zuzusehen, manchmal war es aber auch besser, die Augen so fest zuzukneifen, dass kein einziger Lichtstrahl hindurchdrang. »Ist es nicht traurig, immer allein hier oben zu sitzen «, fragte ich irgendwann bedrückt. »Nein.« Durch seine Einsilbigkeit zwang Ramón mich, selbst eine Antwort auf meine Fragen zu finden. In diesem Fall lautete sie mehr oder weniger so: Egal, ob man ein Kind oder ein klappriger Alter war, unten war man nicht weniger allein als hier oben. (Maria Jose Ferrada - Der Plakatwächter)
Ein Kind hält den Erwachsenen den Spiegel vor
Wie in ihrem Vorgängerroman »Kramp« hält auch in Ferradas aktuellem Buch ein Kind den merkwürdigen Erwachsenen um sich herum einen Spiegel vor. Dieses Mal zusammen mit einem schweigsamen Plakatwächter. Der Eremit auf dem Gerüst“, oder auch „Fool on the hill“. Über den sich die Bewohner der Siedlung mehr und mehr aufregen, weil er mit seinem unkonventionellen Wohnen, angeblich die Ordnung störe. Bis am Ende wirklich etwas Schlimmes passiert.
In „Der Plakatwächter“ erzählt ein kluges Kind von der Dummheit der Erwachsenenwelt – traurig, heiter, herzergreifend.
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