Lesetipp

Vladimir Nabokov – Lolita

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Autor/in
Alexander Wasner

Kindesmissbrauch, geschickt getarnt als Liebesgeschichte. Vladimir Nabokovs zu lesen tut heute noch weh, lohnt sich aber, sagt Literaturredakteur Alexander Wasner. Denn am Ende entlarvt sich der Täter selbst.

Der Roman „Lolita“ von Vladimir Nabokov provoziert bis heute – Männertraum oder Geschichte eines lang anhaltenden Kindesmissbrauchs?

Nabokov gelingt in seinem berühmtesten Roman ein großes Kunststück: Er lässt den 40-jährigen Erzähler seine angebliche Liebesgeschichte mit der 13-jährigen Lolita erzählen – und zwischen den Zeilen und trotzdem für jeden sichtbar sich als Scheusal entlarven.

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Guten Tag, ich bin Alexander Wasner Kulturredakteur beim SWR

Vladimir Nabokov erzählt in „Lolita“ von Humbert Humbert, schon der Name ist grotesk. Er ist Literaturwissenschaftler, pädophil, zur Erreichung seiner Zwecke heiratet er Charlotte, die Mutter von Lolita, sie wird aber vom Auto überfahren, da merkt man gleich das gottähnliche Hineinregieren Nabokovs. Humbert ist plötzlich gegenüber dem Objekt seiner Gier erziehungsberechtigt nimmt Lolita aus der Schule und schleift sie unter dem Deckmantel einer Vater-Tochter-Reise durch Amerika. So weit, so einfach. 

Der Autor versteckt sich

Spannend ist die Haltung des Autors zu diesem Helden. Angeblich wird uns der Bericht durch einen John Ray zugänglich gemacht, der nennt Hubert Humbert ein Scheusal. Anschließend folgt der Bericht Humberts aus der Ich-Perspektive. Wir schauen ihm bei seinen Verbrechen und seinem Scheitern zu. Er hat alle Zeit der Welt, seine Weltsicht dazulegen. Unerträglich ausschweifend erzählt er von der Schönheit heranwachsender Mädchen, also derer, die er widerlicherweise Nymphchen nennt, andere sagen vielleicht Backfisch dazu, das ist auch nicht nett, klingt aber nicht pädophil. Er erzählt durchaus diskret, aber deutlich, was körperlich passiert – es ist ein Täter- Roman, der alle moralischen Empfindungen herausfordert.

Nicht den Film gucken, sondern den Roman lesen!

Man hat Nabokov angegriffen, dass er sich nicht ausreichend distanziert und eine kranke Phantasie hätte – aber das ist ein Vorwurf, der meines Erachtens nur auf die voyeuristisch-anklagenden Verfilmungen zutrifft. Stanley Kubrick war ein Depp, als er in seiner Verfilmung die John Ray und die ganze Vorgeschichte der gemeinsamen Reise wegließ, und mehr noch als er die beiden nicht 13 und 45 sein ließ sondern gefühlt 20 und 35. Schauen sie nicht die Filme an, lesen Sie den Roman.

Nabokovs „Lolita“ tut heute noch weh, und wenn am Ende auch Humbert Humbert erzählen muss, dass das Mädchen sich seit Jahren in den Schlaf weint, trifft es den Leser ins Mark. Die Reue dagegen kann man nicht mehr glauben, es ist die Reue dessen, dessen Lebensentwurf gescheitert ist – sein Opfer hat er nie im Blick.

Leser werden nicht bevormundet

Aber wie gesagt: Nabokov bevormundet seinen Leser nicht. Ein schlaues und oszillierendes Spiel, an dessen Ende der Protagonist furchtbarer demontiert ist, als es eine Verurteilung im Text je erreichen könnte. Kultur darf das? Klar, aber vor allem muss man hier sagen: Literatur kann das, und macht es leider viel zu selten.

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