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Eva Menasse – Alles und nichts sagen. Vom Zustand der Debatte in der Digitalmoderne

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Autor/in
Günter Kaindlstorfer

Die Schriftstellerin Eva Menasse hält Social-Media-Portale wie „Facebook" und „Twitter" – jetzt „X" – für demokratiegefährdend. Und plädiert für regulierende Eingriffe in globalem Maßstab.

 In den sozialen Medien werden heftige Emotionen freigesetzt

Eva Menasse macht sich Sorgen. Zwanzig Jahre, nachdem ein Nerd namens Mark Zuckerberg die Firma „Facebook“ – heute „Meta“ – gegründet hat, ist unsere Welt nicht wieder zu erkennen. Milliarden Menschen kommunizieren digital in real time miteinander – 24 Stunden täglich. Von „Netikette“, wie das früher einmal hieß, ist da längst keine Rede mehr. Der vorherrschende Ton auf Twitter und Co., diesen Eindruck kann man gewinnen, besteht aus mutwilligen Beleidigungen und hysterisierenden Beschimpfungen.

Enorme Emotionen werden digital freigesetzt, „geteilt“ und um die Welt geschickt...

... so Eva Menasses Befund: „Diese Emotionen pflügen Politik und Gesellschaft um“, schreibt sie.

Eva Menasse: „Es ist da wirklich, glaube ich, eine Parallelwelt entstanden, in der wir alle böser, aggressiver, gnadenloser, kompromissunfähiger und insgesamt hemmungsloser sind als in der wirklichen Welt. Und das färbt ab. Das ist wie eine Rückkopplung auf unser Verhalten in der analogen Welt.“

Weder die Wahl Donald Trumps noch der Brexit wären ohne Social Media möglich gewesen, so Eva Menasse, von der massenhaften Verbreitung verschwörungsideologischer Narrative ganz zu schweigen, die ein Ausmaß angenommen hätten, das vor zwanzig Jahren gänzlich unvorstellbar gewesen sei.

Nun könnte man dagegenhalten: Technische Innovationen haben die Menschen immer schon geängstigt – man denke nur an die Panik der ersten Dampfeisenbahn-Passagiere, die Geschwindigkeiten von 35km/h als lebensbedrohlich empfanden. Und stets hätten sich diese Ängste als übertrieben herausgestellt. Warum sollte es bei Social Media anders sein?

Diesmal ist es anders, größer, umfassender, folgenreicher. Die Digitalisierung aller Lebensbereiche ist mit einer Wucht und Geschwindigkeit über die Menschheit hereingebrochen wie keine andere Erfindung zuvor. Sie verändert sich und uns immer weiter, beständig nur in ihrem lawinenhaften Charakter.

Denn eines dürfe man nicht vergessen, so Eva Menasse: Die weltweit operierenden Social-Media-Portale sind privatkapitalistische Unternehmungen, die nach rein kommerziellen Gesetzmäßigkeiten operieren

Soziale Medien befördern Suchtverhalten

Eva Menasse: „Ich kann nur jedem empfehlen, der es noch nicht gesehen hat – diese Dokumentation auf Netflix: „Das Dilemma mit den Social Media“ – wo wirklich nachgewiesen wird, dass die Dinge so programmiert sind, um uns dranzuhalten, um uns süchtig zu machen. Das kann man messen – die Dopaminausschüttung im Gehirn, die Adrenalinausschüttung. Menschen werden bei Konflikten drangehalten.“

Eva Menasse sieht Tiktok, Snapchat und Twitter, das jetzt „X“ heißt, tatsächlich als Suchtmittel – wie Kokain oder Zucker. Für sich selbst hat die Schriftstellerin beschlossen, das Social-Media-Spiel nicht mitzuspielen. Durch individuelle Verweigerung, das weiß die Schriftstellerin, werden sich die Probleme allerdings nicht aus der Welt schaffen lassen:

Erosion von gesellschaftlichem Zusammenhalt

Eva Menasse: „Ich glaube aber auch, dass man nicht umhinkommen wird, sich Beschränkungen zu überlegen als Gesellschaft, und zwar als globale Gesellschaft. Genauso wie wir das Klimaproblem nur global lösen können, können wir dieses Kommunikationsproblem nur global lösen. Es muss, glaube ich, irgendetwas passieren, weil die Erosion von gesellschaftlichem Zusammenhalt oder auch vom Glauben an Demokratie oder an Vernunft oder an Aufklärung oder auch nur an Fakten, – dass es Wahrheit gibt, eine überprüfbare –, die ist schon bestürzend. Und da müssen wir uns irgendwas überlegen. Aber ich fühle meine Rolle eher als die der Analytikerin und nicht der Problemlöserin. Aber das Problem zu lösen, beginnt mit der richtigen Analyse.“

Die Analyse, die Eva Menasse in ihrem Essay zur Diskussion stellt, jedenfalls: Sie ist in höchstem Maße beunruhigend – wenn auch die positiven Aspekte, die Social Media auch hat, in diesem Buch vielleicht etwas unterbelichtet bleiben.

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Die Schriftstellerin Eva Menasse plädiert dafür, dass es möglich sein muss, über alles zu sprechen und alles zu denken.
Rezension von Holger Heimann.
Droschl Verlag, 48 Seiten, 10 Euro
ISBN 978-3-990-59066-9

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