„World Wide Wunderkammer: Ästhetische Erfahrung in der digitalen Revolution“ heißt das neue Buch von Holger Noltze. Der Musikjournalist und Professor für Musik und Medien an der TU Dortmund zeigt den Mehrwert der Digitalisierung für Kulturinstitutionen auf – von den Zauberorten des Analogen hin zu digitalen Wunderkammern. Georg Beck hat das Buch gelesen.
So beginnt sie, die Schilderung einer der frühesten ästhetischen Erfahrungen in oder genau genommen: vor der digitalen Revolution. Sie stammt aus dem Roman „Der Zauberberg“ von Thomas Mann. Wir sind in den 1920er Jahren. Das High-End-Gerät heißt Grammophon.
„Thomas Mann hätte sich für einen Premium-Streamingdienst entschieden“
Eine Tonkonserven-Erfahrung, die für Holger Noltze durchaus ihren Platz hat – auch in einer Untersuchung zu Wirkungen, Folgelasten und Möglichkeiten von Internet, von Audio- und Videostreaming, von intelligenter Kontextualisierung in der Kultur- und Kunstvermittlung. Allerdings im weiteren Fortgang wird erkennbar, dass der Autor doch etwas mitleidig herabschaut auf diese ästhetische Erfahrung aus der medialen Bronzezeit – eingeklemmt wie sie ist zwischen den Großkapiteln über Fasolt und Fafner, über Spotify und Youtube, über Streamingdienste und „user generated content“.
Man kann das bezweifeln. Der Autor des „Zauberberg“ war kein Technikfreak. Gerade das „Rauschen, Knacken, Knistern“, hätte er entgegengehalten, erinnert uns doch daran, dass wir zur Technologie Distanz zu halten haben.
Keine totale Immersion, sondern sorgfältig kuratierte Inhalte
„Immersion“ jedenfalls, der Fachausdruck für das restlose Eintauchen in die virtuelle Realität, gerade dies lehrt ja der „Zauberberg“, kann kein Ideal sein. Was auch nicht Holger Noltzes Credo zu sein scheint, zumindest nicht in erster Linie. Ihm geht es um etwas anderes.
Wie kommt Ordnung in die Wunderkammer? Darum geht es in diesem Buch. Wobei es immer dann am interessantesten wird, wenn der Autor die Zügel locker hält, wenn er mit launiger Journalist*innenfeder die Ausflüge protokolliert, die der Netzaktivist Holger Noltze in der Umgebung des Surfgebietes „Kunst im Netz“ unternimmt – sich „an einem verregneten Tag in Boston“ von einer Daily-Art-App ein Bild aussuchen lässt, sich umschaut auf Ubu-Web des New Yorker Konzeptkünstlers Kenneth Goldsmith.
Netzaktivist für Live-Streaming
Von dort geht es mit dem nächsten Klick ins Kapitel „Musik im Internet“ und der Autor ist in seinem eigentlichen Element, wenn er etwa die „Digital Concert Hall“ aufruft, über die die Berliner Philharmoniker seit 2008 etwa 40 Konzerte jährlich streamen. Hier kennt sich Noltze aus, betreibt als Chefredakteur ja selber eine online-Plattform für klassische Musik.
Im Video-Live-Streaming sieht er eine Qualität, die das lineare Fernsehen nicht bietet, nicht mehr bietet. Der Video-Stream, so die Botschaft dieses Buches, lässt uns teilhaben an den Spannungsmomenten wie den Unwägbarkeiten von echter Live-Gleichzeitigkeit.
Wunderkammern faszinieren
Das ist jetzt der Teil zum Mitschreiben, der Netzaktivist verwandelt sich in den Netzpädagogen Holger Noltze. Und es stimmt ja: Was am Bild der Wunderkammer gefällt, so steigt Noltze ein in seinen Streifzug, ist die tatsächlich Vorstellung der gescheiterten Ordnung. Die Kunst- und Naturalienkabinette der Frühen Neuzeit waren faszinierend, gerade weil sie keine erkennbare Ordnung hatten.
Das Buch „World Wide Wunderkammer“ vereint beides. Den Lehrer*innenband, die Abteilung pädagogisch wertvoll und das launig vor sich Hinparlierende über all die Sachen, die im Netz so passieren: Strukturwandel von Kommunikation, Erosion von Machtverhältnissen, Rezo und Greta, Kulturkampf ums Für und Wider des Webs.
Holger Noltze kennt das alles und weiß alles freundlich, wie ein guter Begleiter, zu besprechen. Content kann eben alles sein: Echte Fundstücke, wertvolle Inhaltstoffe und Gerümpel. Eine World Wide Wunderkammer eben.