Was ist eigentlich „die Wahrheit“ in einer Welt voller Fake News, Manipulation und Künstlicher Intelligenz? Auf jeden Fall mehr als das, was wir sehen und erfahren. Liegt die Wahrheit in der Kunst? Der Filmemacher Werner Herzog findet eigenwillige und erhellende Antworten auf diese Frage.
Werner Herzog:
„Schauen Sie, in den letzten zwei Jahren habe ich drei Bücher geschrieben: einen Roman – ‚Das Dämmern der Welt‘ -, meine Memoiren und ‚Die Zukunft der Wahrheit‘. Ich habe einen massiven literarischen Output im Moment, aber in derselben Zeit habe ich auch zwei Filme gedreht.“
An künstlerischer Produktivität lässt es Werner Herzog auch im Alter von 81 Jahren nicht missen. Wie es um die Wahrheit bestellt ist in Zeiten von Photoshop, Deep Fakes und allgegenwärtiger digitaler Technologie, der Frage will er nachgehen.
Werner Herzog:
„Welche Zukunft hat eigentlich die Wahrheit heute mit Artificial Intelligence, also künstlicher Intelligenz? Welche Zukunft haben wir da, wo wir kaum mehr unterscheiden können, ob eine e-mail, die Sie erreicht, nicht von einer künstlichen Intelligenz, einem Roboter geschrieben ist? Oder eine Rede oder ein Politiker, der im Fernsehen auftritt, den können Sie heute schon künstlich herstellen, mit allen Gesichtsausdrücken, mit seinem Sprachduktus, seiner Intonation, seiner Stimme sozusagen auch!?“
Die schönste Lyrik stammte von einer KI
So ist es Werner Herzog kürzlich selbst ergangenen, als eine KI einen so nie stattgefunden habenden Dialog zwischen ihm und dem slowenischen Philosophen Slavoj Zižek fingierte – für ihn „nichts anderes als die Mimikry eines Diskurses“.
Werner Herzog:
„My name is AI. I am code. I know more than you. And Iʼm better.“
Vor kurzem hat man Werner Herzog gebeten, jene Lyrik einzulesen, die eine KI geschrieben hat – Code-Da-Vinci-002, eine frühe Version von ChatGPT. Und da Herzog, der selbst seit seiner Jugend Gedichte schreibt, diese von einem Roboter erzeugte Poesie für besser hielt als „fast alles“, was er in den letzten Jahrzehnten gelesen hatte, machte er mit, schreibt er in seinem jüngsten Buch. Der schmale Band von gerade mal hundert Seiten vereint noch mal jene Grundüberzeugungen, für die er seit jeher steht und die sich in seinem Begriff der „ekstatischen Wahrheit“ bündeln. Nur die Kunst, die Musik, die Literatur, das Kino können sie hervorbringen. Werner Herzog geht es auch in seinen Dokumentarfilmen immer darum, eine „tiefere Schicht von Wahrheit“ zu erkunden, „die uns jenseits des Vermittelns reiner Information ein fernes Echo von etwas vermittelt, das uns innerlich erleuchten kann“, ...
Werner Herzog:
„... eine Wahrheit zu finden, die einen illuminiert, eine ekstatische Wahrheit, im Widerspruch zum Cinema Verité, das ja die Wahrheit in Anspruch nimmt und im Grunde genommen aber immer auf der Oberfläche des Möglichen geblieben ist, das phänotypisch Oberflächliche, was da ist, wird beschrieben, wo ein viel zu großer Wert dem Faktum beigemessen wird.“
Fakten sind nur etwas für Buchhalter
Das Faktum sei „mehr etwas für Buchhalter“, so Werner Herzog. „Wenn Fakten alleine zählten, wäre das Telefonbuch das Buch der Bücher“, formuliert er griffig. Man denkt an Maxim Gorkis Theaterstück Sommergäste. Darin brüllt eine etwas beschränkte Figur immer wieder: „Das ist ein Faktum!“, bis sie im Vierten Akt nur noch schnattert: "Faktum, Fakt, Fakt ... wie die Enten zu sagen pflegen." Herzog geht es um eine Überhöhung und Stilisierung der Realität auf seiner Wahrheitssuche.
Werner Herzog:
„Bezeichnenderweise hat André Gide, der französische Schriftsteller, einmal gesagt: Ich verändere Fakten in der Weise, dass sie der Wahrheit näherkommen als der Realität [im Original: J'arrange les faits de façon à les rendre plus conformes à la vérité que dans la réalité. Paludes, 1920]. Das ist wunderbar gesagt und das beste und einfachste Beispiel ist der Michelangelo mit seiner Skulptur von der Pietà. Wenn man sich den Jesus ansieht, vom Kreuz abgenommen, sieht man in das Gesicht eines 33-jährigen Mannes. Und wenn wir uns das Gesicht seiner Mutter anschauen, stellen wir fest, dass die Mutter erst 15 Jahre alt ist, oder vielleicht 17. Jetzt kommt meine Frage: Hat Michelangelo versucht, uns fake news zu geben? Hat er versucht, zu belügen und zu betrügen? Natürlich hat er das nicht. Er hat die Fakten so verändert, dass sie auf einmal einen Wahrheitsgehalt bekommen. Also die Wahrheit des Schmerzensmannes und die Wahrheit der Jungfrau Maria.“
So nachvollziehbar diese künstlerische Argumentation ist, so merkwürdig mutet es an, dass Herzog auch in diesem Buch wie schon in seinen Memoiren „Jeder für sich und Gott gegen alle“ William Shakespeare einen Satz in den Mund legt, den man in dessen Werk vergeblich suchen wird. Er lautet: „Die wahrhaftigste Dichtung ist die, die am meisten vortäuscht.“ Ob Herzog auch hier so vorgeht wie bei dem schönen, aber von ihm frei erfundenen Satz „Manchmal träumt der Krieg von sich selbst“, den er in seiner großartigen Doku „Lo and Behold – Wovon träumt das Internet?“ dem Kriegstheoretiker Carl von Clausewitz untergeschoben hat? In diesem Punkt, räumt Herzog freimütig ein, nehme er es selbst nicht so genau mit der Wahrheit, allerdings würde er solche „Fälschungen“ als solche kenntlich machen.
Werner Herzog:
„Ich lasse das Publikum ja auch immer wissen, hier habe ich auf einmal ein Zitat von Blaise Pascal, dem Philosophen, erfunden. Klar, Pascal hätte es auch nicht schöner sagen können (lacht).“
Niemand weiß, was Wahrheit wirklich ist
Über nie verwirklichte Filmprojekte – eines davon mit dem Boxer Mike Tyson – schreibt Herzog auch in „Die Zukunft der Wahrheit“. Man erfährt Wissenswertes über die Entstehung hierzulande nie gezeigter Spielfilme wie „Family Romance, LLC“ oder „The Incident of Loch Ness“. In letzterem spielte Werner Herzog 2004 auf Bitten des Regisseurs Zak Penn sich selbst und sprach den nicht eben unbescheidenen Satz: „Mit mir beginnt die Wahrheit im Film.“ Kein Zitat signalisiert besser, warum man Werner Herzogs Suche nach der Wahrheit mit der nötigen Vorsicht begegnen sollte.
Werner Herzog:
„Wahrheit ist etwas, das können wir nur mit Kneifzangen anfassen, weil das niemand weiß, was das wirklich ist: weder der Papst in Rom noch die Mathematiker noch die Philosophen können Ihnen da Auskunft geben.“
Buchkritik Werner Herzog – Jeder für sich und Gott gegen alle. Erinnerungen
Einer der großen Regisseure seiner Generation, daneben ein erstaunlicher Schriftsteller – und in 80 Jahren scheint Werner Herzog mindestens fünf Leben gelebt zu haben. In „Jeder für sich und Gott gegen alle“ erinnert er sich an seine Kindheit, seine Filme, seine Abenteuer. Fantastisch erzählt, faszinierend zu lesen. | Rezension von Ulrich Rüdenauer. | Hanser Verlag, 352 Seiten, 28 Euro | ISBN 978-3-446-27399-3