Joan Didions „Demokratie“ neu übersetzt: Ein Roman über politische Schattenräume, sprachlich präzise geschrieben und mit brisanter Aktualität im Kontext des US-Wahlkampfs.
Es ist eine Szene, die sich ins Gedächtnis einbrennt:
„Da spricht ein Waffenhändler und erzählt seiner Geliebten von ganz romantischen Inseln im Pazifik und er beschreibt so ein Bild vom rosa Himmel und Sonnenaufgängen und nach ein paar Zeilen begreift man, dass er eigentlich Atolle beschreibt, auf denen Atomtests stattfanden."
So beginnt Didions „Demokratie“. Die Anfangsszene, die die Übersetzerin Antje Rávik Strubel hier beschreibt, ist dabei emblematisch für den ganzen Roman: Hinter dem, was oberflächlich glatt und schön scheint, verbergen sich dunkle Realitäten und moralische Abgründe, gesellschaftlich und – ganz besonders – politisch.
„Demokratie“: Darum geht es im Roman
Antje Rávik Strubel übersetzte schon viele Joan Didion Werke ins Deutsche, zum Roman „Demokratie“ hat die Übersetzerin, Autorin und Deutsche Buchpreisträgerin, ein ganz besonders Verhältnis: „Demokratie war der Roman, mit dem ich Joan Didion eigentlich entdeckt hab.“
Besonders auch die Form: Es ist kein klassischer „von vorne nach hinten“ erzählter Roman: „Es ist eigentlich die Recherche einer Journalistin und im Mittelpunkt dieser Recherche steht Inez Victor, die Frau eines Senators, der dann auch für die Präsidentschaft in den USA kandidiert. Diese Recherche ist aber natürlich eine fiktive Recherche, also Joan Didion ist die Erzählerin, die Journalistin, die den Fall quasi recherchiert, und es geht um Inez Victor und ihre Beziehung zu Jack Lovett, dem Waffenhändler, also sie hat eine Affäre mit ihm, die dauert, aber schon seit sie 17 Jahre alt ist.“
Der Roman erzählt von Familientragödien, Drogen, Skandale, sogar Mord. All das entspinnt sich vor einem hochpolitischen Hintergrund. Inez Victor ist der Angelpunkt des Geschehens, die Gattin des Präsidentschaftskandidaten. Es ist 1975. „Demokratie“ spielt vor der Kulisse des endenden Vietnamkriegs, auf Hawaii, in New York, in Jakarta.
Opulenter Titel und Kampfbegriff
„Demokratie“ – was für ein opulenter Titel für einen Roman! Mit Blick auf den laufenden US-Wahlkampf ist dieses große Wort ein Schlüssel- ja vielleicht sogar – ein Kampfbegriff? 1984 erschien Didions Roman erstmals, nun in Neuübersetzung, im Ullstein Verlag. Sehr passend zum Zeitgeschehen, findet Strubel.
„Der Titel „Demokratie“ ist ja auch ironisch letztendlich gemeint. Sie beschreibt ja eine Gesellschaft, sie beschreibt die Schattenräume der amerikanischen Politik, wenn man so will.
Diese Machenschaften, die im Hintergrund abliefen zum Ende des Vietnamkriegs, die durch diesen Waffenhändler deutlich werden. Man sieht einen ganz desillusionierten Standpunkt und sie blickt nicht besonders optimistisch auf diese Gesellschaftsform.
Gekonnte Neuübersetzung von Antje Rávik Strubel
Didions sehr präzise Sprache, die Reduktion und den Rhythmus übertrug Strubel gekonnt ins Deutsche. Das sei nicht ganz einfach, meint die Übersetzerin, ohne, dass es eckig oder holprig wirke.
„Das ist das eine, das andere ist, dass Didion ihre Figuren hauptsächlich dadurch charakterisiert, wie sie sprechen“, meint Strubel. „Also eins der wesentlichen Gegenstände von Didion ist die Sprache und die Frage, wie wir sprechen. Ihre Dialoge sind so gestaltet, dass man im Sprechen der Figuren den Kern der Figuren versteht.“
Besondere Bedeutung im US-Wahlkampf
Die Sprache: Sie ist Didions und Strubels Arbeitswerkzeug. Und Didions Überlegungen zur Sprache sind es, die mit Blick auf den US-Wahlkampf zwischen Trump und Harris nochmal besonders an Bedeutung gewinnen. Denn die politische Rhetorik und ihre Verrohung war ein Thema, das Didion schon zu Lebzeiten thematisierte.
So Strubel: „Sie war eine der ersten, die diese Verrohung der politischen Sprache, eigentlich auch mit Newt Gingrich, beobachtet hat und vor der zunehmenden Popularisierung in den 80ern schon gewarnt hat.“
„Das war einfach Didions Methode. Sich selbst zum Seismografen zu machen“
Wie die 2021 in New York verstorbene Didion den aktuellen Wahlkampf und die politische Lage in den USA wohl gerade bewertet hätte? Darauf gibt es keine klare Antwort – ganz Didion-typisch.
In ihrem Vorwort zum Roman schreibt Strubel, Didion zu lesen bedeute, sich einer Sache nicht mehr so sicher zu sein. Sie war eine Autorin mit skeptischem Blick. Didions Texte geben keine klaren Antworten, sondern stellen die richtigen Fragen, sagt ihre Übersetzerin:
„Das war einfach Didions Methode. Sich selbst zum Seismografen zu machen, für etwas, das sie beobachtet, und das dann in Frage zu stellen. Also an sich ein Gefühl zu bemerken, was sie dann ins Gesellschaftliche hinein überträgt und das dann in Frage zu stellen. Und ich glaube, sie war grundsätzlich ein total desillusionierter Mensch, aber sie hat gesagt, es gibt sowieso keinen Fortschritt in dem Sinne, dass irgendwann alles viel besser ist. Aber gerade aus dieser Sicht hat sie eben diese Verpflichtung abgeleitet, sich das eigene Denken anzugucken und auch die eigenen Vorurteile und alles was damit zusammenhängt anzugucken. Also ganz krass:
Eine Botschaft von ungebrochener Relevanz
Didion fordert ihre Leser und Leserinnen auf, kritisch zu bleiben und sich nicht mit den einfachen Antworten zufrieden zu geben. Oder wie Antje Rávik Strubel in ihrem Vorwort schreibt: „Didion geht nicht davon aus, dass etwas ist, wie es scheint.“
Es ist eine Botschaft von ungebrochener Relevanz. „Demokratie“ erinnert daran, sich mit den unbequemen Wahrheiten auseinanderzusetzen – eine Aufgabe die 40 Jahre nach Ersterscheinen des Romans, genauso ungebrochen wichtig bleibt - damals wie heute.
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