Buchkritik

Walburga Hülk – Victor Hugo. Jahrhundertmensch

Stand
Autor/in
Roman Kaiser-Mühlecker
Rezensent Roman Kaiser-Mühlecker.

Der Brand der Kathedrale Notre-Dame im Jahr 2019 katapultierte Victor Hugo auch im deutschsprachigen Raum zurück in die Bestsellerlisten. Der Schöpfer von „Der Glöckner von Notre-Dame“ und „Die Elenden“ war nicht nur der berühmteste Schriftsteller seiner Zeit. Er prägte das 19. Jahrhundert auch durch sein politisches Engagement wie kaum ein anderer. Die Romanistin Walburga Hülk hat eine Biographie geschrieben, die die Aktualität Hugos eindrucksvoll belegt.

Woher nahm Victor Hugo nur seine Zeit? Tausende Gedichte, epochale Romane, wegweisende Theaterstücke, dazu ein Leben als öffentlicher Intellektueller, Familienmensch und notorischer Schürzenjäger.

Die Literaturwissenschaftlerin Walburga Hülk hat sich durch das Werk eines Titanen gearbeitet, Selbst- und Fremdzeugnisse gesichtet und nun die Biographie eines „Jahrhundertmenschen“ vorgelegt, der früh sein außerordentliches Talent für Selbstvermarktung und Networking unter Beweis stellte.

Das Porträt eines Ausnahmekünstlers, der, wie sie immer wieder schreibt, „mit dem Jahrhundert ging“. Der sich nach einer langen royalistischen Phase an die Spitze progressiver bürgerlicher Strömungen stellte, was ihn nach dem Staatsstreich von Napoleon III. 1851 ins Exil trieb.  

Ein lebendes Denkmal 

Beinahe 20 Jahre verbrachte Hugo auf den britischen Kanalinseln, die zu seiner zweiten Heimat wurden. Dort entstand unter anderem „Les Misérables“, und von dort aus lancierte er seine Kampagnen gegen die Todesstrafe, gegen die Sklaverei und gegen autoritäre Systeme. Bei seiner Rückkehr nach Paris 1870 war Hugo bereits ein lebendes Denkmal, die Verehrung nahm bald kultische Ausmaße an.   

Am 26. Februar 1881 feierten 600.000 Menschen in Paris den 79. Geburtstag Hugos, die Schule fiel aus und Strafarbeiten wurden den Kindern an diesem Tag erlassen, denn alle sollten dem Großvater der Nation zujubeln können. Es war die längste Prozession, die Paris seit den Tagen Napoleon Bonapartes gesehen hatte, und die größte Massenanbetung, die je einem Dichter zuteil wurde.

Von Selbstzweifel verschonter Patriarch 

Victor Hugo bleibt bei der Lektüre dieser umfangreichen Biographie seltsam fremd und unnahbar. Das liegt nicht an Hülks Darstellung, die kunstvoll und lebendig, stellenweise mitreißend ist, sondern an der historischen Figur selbst.

Es fällt schwer, Sympathie für diesen von Selbstzweifel gänzlich verschonten Patriarchen aufzubringen, der bei privaten Treffen seine Orden trug, an allen möglichen Orten seine Initialen eingravierte und selbst den vorzeitigen Tod seiner beiden Söhne mit Blick auf seine Bücher kommentierte:  

Mein Charles hat L’année terrible nicht gelesen, mein Victor hat Quatrevingt-Treize nicht gelesen. Vielleicht lesen sie es von dort oben.

Näher kommen uns die Dutzenden Nebenfiguren, die Hülk auftreten lässt, während das Jahrhundert und mit ihm die Industrialisierung und die Vernetzung der Welt voranschreiten. Hugos Tochter Adèle etwa, eine begabte Musikerin, deren Jugend dem Familien-Exil auf den Kanalinseln zum Opfer fiel und die früh mit psychischen Problemen zu kämpfen hatte.

Oder Hugos Geliebte Juliette Drouet, die lebenslang neben Hugo wohnte und ihm zuarbeitete, ohne dass sie jemals einen offiziellen Platz an seiner Seite erhielt.  

Der erste Intellektuelle des globalen Medienzeitalters 

Trotz der klaren Benennung seiner Schwächen geht es Hülk nicht darum, Hugo in postmoderner Manier zu verurteilen. Sie versucht stets, das Handeln der Figuren aus ihrer Zeit heraus zu verstehen – und gerade deshalb streicht sie die besonders modernen Momente in Hugos Werk und Leben hervor.

Er revolutionierte das Theater, war der erste „Intellektuelle des globalen Medienzeitalters“, experimentierte mit dem brandneuen Medium Fotografie, beschäftigte sich mit Massenbewegungen und entwickelte die Vision eines geeinten Europa. Hülk erzählt poetisch und prägnant zugleich von der Verwobenheit eines Künstlerlebens mit seinem Jahrhundert. Resümierend hält sie fest:  

Er konnte blumig, ja kitschig sein, Pomp und Pathos gehören zu seinem Stil ebenso wie der lyrische Ton, die Satire, Arabeske und Groteske. Immer aber bewegte er Herz und Verstand und erzählte so, dass man glauben mochte, Erzählen helfe in allen Lebenslagen und könne selbst niemals in eine Krise geraten. Er ging durch das Leben und durch sein Jahrhundert als Passant in der Menge und als Streuner am Meeresstrand, und das Jahrhundert und das Leben kamen zu ihm.

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