Reportage

Jenseits von Ideologie und Ostalgie: Annett Gröschners neuer Roman „Schwebende Lasten"

Stand
Autor/in
Corinne Orlowski

Annett Gröschner erzählt wirklichkeitssatt und unprätentiös von einer Magdeburger Arbeiterin, die trotz aller Widrigkeiten vor allem eines bleiben wollte: anständig.

Vor Annett Gröschner erstreckt sich ein kleines Blumenmeer: weiße, rote Tulpen und Maiglöckchen. Daneben lehnt ein verbeultes gelbes Warnschild: „Unter schwebenden Lasten lauert der Tod“ – ein Geschenk zur Buchpremiere im ausverkauften Literaturforum im Brechthaus, zu der viele Freunde vornehmlich aus dem Osten gekommen sind.

Ihr neuer Roman trägt den Titel „Schwebende Lasten“. In der Mechanik beschreibt das Objekte, die beispielsweise von Kränen gehoben werden.

Viele Berührungspunkte mit Annett Gröschners Leben

Ein poetischer Titel für ein Buch, das nichts weniger als ein ganzes Leben hebt, ein fiktives, das viele Berührungspunkte mit Gröschners eigenem hat. Zu Beginn flimmert auf der Leinwand eine private Filmaufnahme zu Nina Hagens „Blumen für die Damen": ein fröhlicher Familienausflug im Park.

„Das ist ein Schmalfilm, den unser Vater gemacht hat, 1963 im Sommer. Und hier vorne das ist meine Mutter und in dieser Mutter bin ich,“ erzählt Gröschner. Das körnige Bild der winkenden Mutter ist auch das Cover des Buches geworden. „Ich sag das jetzt nur hier, denn für den Roman spielt das eigentlich keine Rolle, aber ich fand den Film so schön.“

Annett Gröschner lebt zwar schon seit 42 Jahren in Berlin, doch ihre Heimatstadt Magdeburg scheint sie – zumindest literarisch – nicht loszulassen. Nach ihrem Debüt „Moskauer Eis“ im Jahr 2000, könnte man „Schwebende Lasten“ 25 Jahre später als Pendant bezeichnen.

„Weil ich gedacht habe, ich finde diese Konstellation in meiner Familie so interessant, dass der väterliche Teil in so eine industrielle Familie eingeheiratet hat und der mütterliche Teil proletarisch war – was eigentlich im Westen nie zusammengegangen wäre – ich wollte es einfach erzählen.“

Ein Reiseführer durch den Osten

Für Patricia Klobosiczky, die Lektorin des Romans und Moderatorin des Abends, sind Gröschners Bücher so etwas wie Reiseführer durch den Osten. Sie meint: „Sie ahnen nicht, wie entfernt der deutsche Osten wirkte – und zwar von Süddeutschland aus gesehen, von Düsseldorf und von Hamburg aus gesehen.“

Wie ein Kompass können Gröschners Texte einen in eine vergangene Welt führen.

Und das kann man auch von Schwebende Lasten behaupten. Hier wird von einer Frau erzählt, die es so millionenfach gegeben hat, aber für gewöhnlich in der Geschichtsschreibung unsichtbar geblieben ist. Es geht um Hanna Krause, geboren im Kaiserreich, Blumenhändlerin im Nationalsozialismus und Kranfahrerin in der DDR.

Sie erlebt zwei Weltkriege, zwei Diktaturen, zwei Demokratien. Hanna ist aber keine Heldin, war nie politisch aktiv. Ihr einziges Credo: „anständig bleiben“.

Als Hanna mit ihrem ersten Kind in den Wehen lag und dabei auf die Johanniskirche schaute, wusste sie noch keinen Namen. Die Hebamme drückte auf ihren Bauch, damit es schneller ging: „Wer Ostern mit den Eiern spielt, hat Weihnachten die Bescherung. Also Geschenk auspacken.“

Insgesamt wird Hanna sechs Kinder auf die Welt bringen, von denen zwei vor ihr sterben. Für Lektorin Klobusiczky eine beeindruckende Frau. „Sie ist so unglaublich plastisch. Für mich ist sie auch ein freier Mensch, obwohl sie ja von einer Diktatur in die nächste stolpert.“ Trotz all der Schicksalsschläge und Widrigkeiten schlägt sich Hanna tapfer durchs Leben.

Blumen sind Lebenstrost und Ruhepool

Blumen bleiben zeitlebens ein Trost. Sie bilden den Ruhepol der Handlung. Passenderweise trägt Gröschner ein Tuch um den Hals mit dem Gemälde „Blumenvase in einer Fensternische“ des niederländischen Malers Ambrosius Bosschaert. Das Stillleben bildet das Gerüst des Romans. Jeder Blume aus dem Bild ist ein Kapitel gewidmet: Alpenveilchen, Vergissmeinnicht,

…Studentenblume. Auch Tagetes genannt. Leuchtendes Gelb oder Orange. Aus der Familie der Korbblütler. Ist nur einjährig, aber sehr anpassungsfähig und robust. Riecht streng. Wenn im Strauß, dann nur 1-2 und mit angenehm duftenden Blumen.

Hanna bekommt im Jahr 1938 von einem geheimnisvollen Fremden den Auftrag, das Bukett vom Gemälde nachzubinden. Damals unmöglich, niemals hätten Tulpen und Rosen gleichzeitig in einer Vase stehen können. „Das waren alles so Sachen, die musste ich selber erst lernen. Aber das Schöne ist, dass die Familie meiner Agentin, das sind Blumenhändler, und wir haben das dann ausprobiert.“

Bosschaerts Bild steht für die Schönheit der Schöpfung und Vanitas in einem, eine Metapher für die Ambivalenz des Lebens. „Ich wollte nicht nur dieses Leben einer Arbeiterin beschreiben, sondern es ging mir auch ein bisschen zu zeigen: das Blumenbinden ist ja auch eine Kunst.“

Auf wenigen Seiten erzählt Gröschner so viel: man lernt nicht nur die zupackende Hanna kennen, sondern auch ihr Umfeld, die ehelichen Dynamiken mit ihrem einbeinigen und im Alter stummen Mann Karl, man hört die Menschen reden, und man bekommt Eindrücke von einer Stadt, die heute so nicht mehr existiert.

Wie das gänzlich im Krieg zerstörte Armenviertel „Knattergebirge“ – vor dem Zweiten Weltkrieg eines der am dichtesten bebauten Wohngebiete Europas.

„Wenn Sie schon mal in Magdeburg waren, hinterm alten Markt, die Johanniskirche, wenn man da bis zur Elbe geht, ist alles Grünanlage und das war das Knattergebirge. Also auf dieser Grünanlage befanden sich 20, 30 Gassen und Straßen und davon ist nichts übrig geblieben. Aber die Keller sind noch da. Und das war etwas, was unsere Kindheit auch bestimmt hat.“

Eine Frau in der Schwerindustrie – jenseits aller Ideologie

So gibt es eigentlich zwei Protagonisten in diesem Roman: Hanna und die Stadt Magdeburg. Gröschner erzählt, sie habe mal ein Buch über Kriegserfahrungen von Frauen in Berlin gemacht, da habe sie viel über das Erzählen aus weiblicher Sicht gelernt:

„Die haben einfach die ganzen schrecklichen Sachen so erzählt, dass man irgendwie lachen musste und im nächsten Moment blieb einem das Lachen aber im Hals stecken. Ich fand diese Art der Erzähltechnik sehr überzeugend.“

So ist vermutlich auch die Lakonie in „Schwebende Lasten" gekommen. Die schnörkellosen Sätze wirken mitunter burschikos. Trotzdem ist der Roman – jenseits von Ideologie und Ostalgie – niemals dumpf, sondern im Gegenteil ein dicht gearbeitetes, eindrückliches wie unprätentiöses Porträt der unvergesslichen Hanna Krause, die als ältere Frau auf dem Kran in der Schwerindustrie arbeitet.

Je besser sie den Kran beherrschte, desto mehr Gefallen fand sie an ihrer Position. Bald nannte sie ihren Kran Mimi. Sie redete mit Mimi, wie sie mit den Blumen geredet hatte. Und nicht selten dachte sie, dass sie mehr mit ihrem Arbeitsgerät redete als mit Karl.

Nach der Lesung trägt Annett Gröschner ihr Blechschild stolz in den Keller. Dort wird ihr Roman mit Wein, Schichtbroten und vielen frühlingshaften Blumensträußen gefeiert.

lesenswert Magazin Literatur entdecken: Neue Stimmen, große Romane und bewegende Geschichten von Patrick Modiano, Jonathan Lethem, Kjersti Anfinnsen u.a.

Mit einem Gespräch über die norwegische Literaturszene, neuen Büchern über eine Blumenhändlerin und Brooklyn und der Frage: Wäre Goethe heute TikTok-Star?

lesenswert Magazin SWR Kultur

Gespräch Ein Jahr „Literally“ – Der TikTok-Literaturkanal des BR

Warum boomen Klassiker auf BookTok? Und kann TikTok tatsächlich ein literarischer Salon sein? Ein Gespräch über Hypes, Hashtags und die Faszination für Klassiker.

lesenswert Magazin SWR Kultur

Gastland der Leipziger Buchmesse 2025 Mehr als nur düstere Krimis: Die Vielfalt der norwegischen Literatur

Norwegen ist der Ehrengast der diesjährigen Leipziger Buchmesse. Grund genug für einen Blick auf die literarische Szene. Wir stellen relevante norwegische Autor*innen vor.

Hörbuch | Deutscher Hörbuchpreis 2025 für die „Beste Interpretin“ Fien Veldman: Xerox – Büroromanze mit einem Drucker

Fien Veldmanns gefeiertes Debüt, das die Leere der modernen Arbeitswelt entlarvt, wird von Maria Wördemann eindrucksvoll gelesen.

Gespräch Ein kühler Blick auf die Realität des Herrschens – Ilija Trojanow „Das Buch der Macht“

Das Thema „Macht“ lässt Autor Ilija Trojanow nicht los. Zehn Jahre nach seinem beeindruckenden Roman „Macht und Widerstand“ über die kommunistische Vergangenheit Bulgariens hat er jetzt eine sehr originelle und eigenwillige Erzählung vorgelegt.

Stand
Autor/in
Corinne Orlowski