Buchkritik

Kjersti Anfinnsen – Letzte zärtliche Augenblicke

Stand
Autor/in
Julia Schröder

Vom sehr hohen Alter wird selten aus der Innensicht erzählt. Die norwegische Autorin Kjersti Anfinnsen wagt es. Ihr schmaler Roman bewegt sich aufs unausweichliche Ende zu – und überrascht doch immer wieder mit Lichtblicken.

Doktor Birgitte Solheim ist alt. Wirklich alt. Die meisten ihrer Freundinnen, Liebhaber, Kollegen sind tot. Und nun ist schon wieder jemand gestorben. Damit beginnt dieser kleine Roman der norwegischen Autorin Kjersti Anfinnsen. Die Ich-Erzählerin ist eine seit langem pensionierte Herzchirurgin. Sie lebt allein in Paris und hält mit ihrer Schwester in Norwegen per Videochat Kontakt.

Gudrun ist tot. Meine beste Freundin während der Kindheit und Jugend. Die Nachricht verkündet mir meine Schwester, die immer noch am Leben ist – ganz offensichtlich. Die Nachricht lässt mich ungefähr drei Sekunden lang zusammensacken und dann denke ich: „Und ich dachte, die sei schon vor Jahren gestorben.“ [...] Ich streiche Gudrun von der Liste der Leute, die mich noch etwas angehen.

Der Buchtitel „Letzte zärtliche Augenblicke“ klingt ein bisschen kitschig – und lockt auf eine falsche Fährte. Diese Heldin ist keine selbstgenügsam über die Welt und die kleinen Freuden des Alters meditierende Seniorin. Im Gegenteil.

Mit dem Beruf verheiratet und jetzt allein

Birgitte war mit ihrem Beruf verheiratet, nun ist sie allein, und sie weiß es. Sie ist angewiesen auf die Hilfe und den Trost von Fremden, und sie weiß es. Sie hat eine revolutionäre OP-Technik entwickelt, wofür ihr männlicher Kollege die Lorbeeren eingeheimst hat, und sie weiß es.

Ihre schwierige Kindheit, das problematische Verhältnis zur Schwester, ihr eigenes Unvermögen, dauerhafte Beziehungen einzugehen – sie weiß um all das. Und seit einer Weile weiß sie auch, wie Altern sich anfühlt.

Man sagt, das Leben verlaufe zyklisch, doch der Vergleich hinkt. Irgendetwas fehlt. Jedes Mal, wenn ich in den Spiegel schaue, fehlt etwas. Jedes Mal, wenn ich meine Hände betrachte, fehlt etwas. Ich weiß ganz genau, was da fehlt: Mir fehlt eine Zukunft.

Doch Birgitte gibt die Hoffnung nicht auf. Zu Recht, wie sich zeigt. Javiér, ein Architekt, mit dem sie zunächst Chatnachrichten ausgetauscht hat, entpuppt sich von der ersten Begegnung an als ihre letzte große Liebe. Sie zieht zu ihm, auch wenn sie ihre eigene Wohnung in der idyllischen Rue des Thermopyles vorsichtshalber behält.

Man hat Sex – einmal im Monat –, man trinkt Wein, man streitet ab und zu, man ist füreinander da. Aber wenn man erst über neunzig ist, kann es ganz schnell gehen. Gedächtnislücken und Demenz, Stürze und Brüche, Krankenhaus und Hospizbett, all das bleibt Birgitte und Javiér nicht erspart, und am Ende wartet unausweichlich – das Ende.

Wer unerwartet zum guten Freund wird

Zuvor jedoch gibt es immer wieder diese kleinen „Augenblicke für die Ewigkeit“, wie einer der beiden Teile des Romans heißt. Etwa, wenn Birgitte gegen den Wirt ihres Stammrestaurants im Canasta gewinnt. Oder wenn ihr treuer Friseur mit einem Arm voller Pfingstrosen, ihrer besten Perücke, dem Lieblingsparfum und Komplimenten zu Besuch kommt.

Dann gibt er mir ein Glas St. Germain, legt mir eine Wolldecke über den Schoß und sagt mir, wie himmlisch ich dufte.

Kjersti Anfinnsen, die Autorin von „Letzte zärtliche Augenblicke“, bleibt immer in der Perspektive ihrer Hauptfigur und hält Birgittes Ton: mal nüchtern, mal trauervoll, mal sarkastisch. Erzählt wird oft in inneren Monologen, aber auch Szenen und Dialogen.

Die kurzen Kapitel fügen sich nicht nahtlos aneinander, sondern springen scheinbar spontan zwischen gerade Erlebtem und Erinnerungen hin und her. Vieles wird ausgelassen oder erst mehrere Seiten später wieder aufgegriffen. So stellt sich beim Lesen der Eindruck intensiver Intimität ein.

Auch, weil diese nicht sonderlich sympathische Ich-Erzählerin mit Zweifeln, Selbstmitleid, Sehnsucht und Selbstsucht und der Beobachtung des eigenen Verfalls nicht hinterm Berg hält. Das gelebte Leben bleibt, und sei es in der Trauer um das Verlorene.

Keine Küsse mehr. Keine Streitereien mehr. Keine Worte mehr [...], auch keine wie Schmetterlinge vor ihrem ersten Flug flatternden Blicke mehr. Keine Hände mehr auf der Haut. Keine Versöhnung andeutenden Füße unter der Bettdecke mehr, nachdem das Licht gelöscht ist. Lediglich eine winzige Hoffnung, ein kleiner Spatz, der sich erhebt und verrückt davonfliegt.

Die Autorin, geboren 1975, hat sich mit Mitte vierzig an das Selbstporträt einer doppelt so alten Frau gewagt. Nicht immer entgeht sie dem Risiko, bei der Innensicht des sehr hohen Alters zu dick aufzutragen. Die leitmotivisch auftauchenden Perückenprobleme einer Pariserin zum Beispiel dürften die meisten deutschen Leserinnen befremden.

Was nutzen die Privilegien, wenn’s aufs Ende geht?

Dass Kjersti Anfinnsen ihren Roman in offenkundig gutsituierten Kreisen ansiedelt, ist hingegen eher Vorzug als Nachteil.

Der ersten Herzchirurgin von Norwegen, die sich ihren Platz erobert hat, nutzen ihre Privilegien nur bedingt, wenn’s auf Ende geht: Haushaltshilfen und Lieferdienste erleichtern den Alltag, aber gegen die Erfahrung von Einsamkeit, Krankheit, Ängsten hilft das Geld nicht. Der Tod kommt so oder so.

Wenn das mal nicht der größte Skandal überhaupt ist. „Letzte zärtliche Augenblicke“ überrascht trotzdem immer wieder mit unerwarteten Lichtblicken. Zugleich wirft der Roman grelle Schlaglichter auf ein paar Dinge, die auch in der Literatur gemeinhin im Dunklen bleiben, obwohl sie jeden angehen.

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Julia Schröder