Buchkritik

Bov Bjerg – Der Vorweiner

Stand
Autor/in
Carsten Otte

Bov Bjergs satirisch-dystopischer Roman „Der Vorweiner“ erzählt von einer medial und emotional kontrollierten Klassengesellschaft, in der privilegierte Menschen kaum noch Gefühle entwickeln können.

Diese Zukunft hat längst begonnen: Kriege und Naturkatastrophen haben die Erde verwüstet. Jenseits von kleinen Regenzonen scheint überall die Sonne. Schnee und Eis sind vom Planeten verschwunden. Ein riesiger Betonblock schützt „Resteuropa“ vor gewaltigen Wassermassen.

Bov Bjerg beschreibt in seinem neuen Roman „Der Vorweiner“ eine exhibitionistische Verlustgesellschaft, in der die Menschen durch mediale Rundumüberwachung kontrolliert werden und jeder Kontrollverlust ein öffentliches Ereignis ist. Verliert beispielsweise eine Mutter ihr Kind, ist das die wichtigste Meldung im Nachrichtenprogramm – die nicht nur gendergerecht vorgetragen, sondern immer auch mit akustischem Terror verbunden wird.

„Seit diesem schrecklichen Erlebnis hat die Frau nicht aufgehört zu schreien. Wir wollen unseren Hörer:innen die Schreie der Mutter nicht vorenthalten.“  

Triggerhinweise auch für Muckefuck

Weil Bov Bjerg in seiner grotesken Dystopie von ökologischen und gesellschaftlichen Verhältnissen erzählt, die völlig gestört sind, kann sich auch die Prosa nicht immer an herkömmliche Konstruktionsprinzipien halten. So beginnt der Text gleich mit dem zweiten Kapitel. Vor jedem Abschnitt gibt es so seltsame wie lustige Triggerhinweise zu lesen, die vor Gewalt gegen Schnecken, Bahnreisen und Dosenananas, Alkoholkonsum und Rauchen, aber auch vor Muckefuck warnen. Dass damit keine sexuelle Handlung, sondern ein harmloser Getreidekaffee gemeint ist, kann in der streckenweise schrecklich realistisch wirkenden Romanwelt nicht vorausgesetzt werden.

Im Mittelpunkt der Geschichte stehen Anna und ihre Tochter Berta, die aus Gründen der plakativen Allgemeingültigkeit konsequent A wie Anna und B wie Berta genannt werden. Die Mutter gehört der Vergangenheit an, hat Kunstgeschichte studiert und als Kuratorin gearbeitet. Die Tochter hingegen ist ein Kind der neuen Zeit, schreibt falschwahre Meldungen für die – ja, so heißt sie – „Agentur für Spannende Nachrichten“.

„Sie ist gut in ihrem Beruf.
Sie hat einen Meister in
Modern Journalism Schrägstrich Neuzeitliche Schreibe fürs Hören.
Sie ist eine erfolgreiche, gern gebuchte Klickbeuterin.“

Das sagt B wie Berta über sich selbst; sie ist die überheblich achtsame, aber im Grunde völlig mitleidslose Erzählerin in diesem Roman. Berta möchte es angeblich nicht übertreiben mit dem Ich-Sagen, nicht einmal im hippen und gleichsam altmodischen Dialekt, der es sogar gestattet, den einen oder anderen Vokal am Verb-Ende wegzulassen.    

„Es ist mir unangenehm, von mir selbst in der dritten Person zu sprechen. Als ob ich mich veredeln wollte. Manchmal versuch ich es, aber jedes Mal geb ich es schnell wieder auf.“

Ein echtes Erlebnis: Kartoffeln ausbuddeln!

Das Verhältnis von Mutter und Tochter ist so dysfunktional wie fast alle Beziehungen in diesem Roman. Vielleicht liegt es an einem traumatischen Erlebnis in der Kindheit. Der Vater ist früh gestorben, angeblich Suizid. Aber vielleicht hat auch die Mutter den Mann mit einem Bolzenschussgerät umgebracht – und das Kind hat alles beobachtet. Das legt jedenfalls eine Erzählsequenz vom sogenannten Gottesauge nahe, eine Art Kamera mit eingebauter künstlicher Hyperintelligenz. Ohnehin wird das Verhältnis von Mutter und Tochter auf unterschiedlichen Erzählebenen durchleuchtet.

Ob wir damit der Wahrheit näherkommen, ist fraglich, denn in diesem Roman werden frei nach Orwell aus allerlei Lügen alternative Fakten kreiert. Das betrifft beispielsweise auch die Klassenverhältnisse, die immer wieder zu Konflikten führen. „Die Niederschicht ist dauerhaft gezähmt“, behauptet Anna und übernimmt damit die Position der „Hauptstrommedien“. Die Proteststürme der Ausgebeuteten gibt es aber trotzdem.

Was Anna und Berta als Vertreterinnen der herrschenden Kaste wiederum verbindet, ist ihre Sucht nach Erlebnissen, die in der sterilen Welt noch echte Emotionen evozieren. Anna plant doch glatt, Kartoffeln mit den eigenen Händen ausgraben! Oder undichte Fenster selbst zu kitten! Doch nicht mal Feldarbeit und Handwerk befriedigen die Frau. Weil ziemlich viel verboten ist, was Spaß machen könnte, lässt Berta ihren Freund mit einer Pizza Hawaii kopulieren und Anna veranstaltet eine esoterische Blutorgie mit Schwein.

„Das Gesetz erlaubte es nur noch, in Schlachthöfen zu schlachten, maschinell, weil die Menschen sonst verrohten. Doch die Sitten der Niederschicht genossen auf vielen Gebieten Bestandsschutz, und manche Sitte, hieß es, stehe ganz offiziell im Range eines partiellen immateriellen Weltkulturerbes.“

Bov Bjerg räumt Seite für Seite nahezu jede politische Debatte ab, die in letzter Zeit geführt wurde. Die dicht gesetzten Einfälle sind so abenteuerlich, dass man kaum mit dem Lachen aufhört. Diese Prosa ist ein gnadenloser Diskurskiller. Dabei geht es im Kern um eine ziemlich traurige Entwicklung. Die Menschen haben nämlich wegen der Vorgabe, alles richtig machen zu müssen, sich längst zu vereinsamten und abgestumpften Individuen entwickelt. Nicht einmal Trauer empfinden sie mehr.

Begüterte Leute wie Anna können sich immerhin einen sogenannten „Vorweiner“ leisten, der im Sterbefall so herzergreifend flennt, auf dass der Tränenfluss der Anwesenden stimuliert werde. Bestattungen heißen hier „Zerstreuungsfeiern“, weil die Asche der Verstorbenen nicht im Beton versenkt werden darf, sondern in alle Richtungen verstreut werden muss. Die Lebenden sind vom Tod besessen, aber weil jede Zerstreuungsfeier im Fernsehen übertragen wird, interessiert sich niemand mehr für das Sterben der anderen.

Beim Zappen durchs langweilige Programm entdeckt Berta eher zufällig, dass ihre Mutter zerstreut wird. Weinen wird sie deshalb noch lange nicht. Leider heult auch vor Annas Urne niemand, denn sie hat nicht nur sich, sondern auch ihren Vorweiner in den Tod gefahren. Was die Tochter gerade mal veranlasst, eine Meldung über den Unfall zu verfassen, die mit der üblichen Tontortur endet.

„Wir wollen unseren Hörer:innen die Schreie der alten Dame nicht vorenthalten.“

Groteske Dystopie mit Anklängen an Grimmelshausen

Die Vorweiner werden in aller Regel aus migrantischen Milieus rekrutiert. Durch die Kriege und Naturkatstrophen gibt es viele Flüchtlinge, die in Auffanglagern wie Neuschwanstein oder Neulübeck interniert sind. Und leider sind wieder die Falschen gekommen. Die Vorweiner aus den untergegangenen Niederlanden oder dem politisch implodierten Österreich sind nämlich äußerst unbeliebt. Es hat sich hingegen herumgesprochen, dass die Menschen aus Westafrika eine „gewisse natürliche Melancholie mit sich“ bringen, um dann einen Tod „fachgerecht und mitreißend zu beweinen“. Was dennoch niemanden helfen wird. Am Ende bleiben alle Überlebenden allein.

Bachmannpreis-Jurorin Mithu Sanyal, die vor laufenden Kameras gerne über ihre Heulattacken während einer Lektüre spricht, würde gegen den Roman wohl einwenden, dass er die Lesenden nicht zu rühren vermag – obwohl doch ausschließlich Beklagenswertes beschrieben wird. Tatsächlich gehört die Unmöglichkeit zur Empathie zum ästhetischen Prinzip dieses Textes, der gerade davon handelt, was mit der menschlichen Psyche passiert, die mit einer Überdosis permanenter Gefühlsinszenierungen bedrängt wird. Dem Roman fehlt daher sehr bewusst ein emotional-narratives Element, das uns die Figuren in irgendeiner Weise „näher“ bringt. Es ist kein Zufall, dass vermeintliche Nebenfiguren aus der „Niederschicht“ vielleicht etwas feinsinniger, aber bloß nicht zu tiefsinnig gezeichnet werden. Das literarische Programm besteht in der größtmöglichen Desillusionierung.

Das erinnert an den berühmten Barockschriftsteller Grimmelshausen, der seinen Simplicissimus Teutsch von den Verheerungen in Europa nach dem Dreißigjährigen Krieg berichten ließ. Tatsächlich verweist nicht nur die postapokalyptische Stimmung in „Der Vorweiner“ an das historische Vorbild, immer wieder wechseln Stil, Perspektive und Tonlage – wie es auch für Grimmelshausen typisch ist. Nur dass wir es bei Bjerg mit einer Simplicissima zu tun haben, die auch vor einem Mord nicht zurückschreckt und die Gewalttat – sehr zeitgemäß – als Akt der Selbstermächtigung verbrämt. Leider entpuppt sich auch ihr Lover als Menschenfeind, deshalb darf er von der Betonkante in die tiefe See geschubst werden. Womit auch die nächste O-Ton-Story im Kasten ist.

„Ich schrei wie am Spieß, extra schrill und irre, nehm den Schrei auf und schick die Nachricht noch vom Küstenweg an die Verwertungsvermittlung. Ich mach nicht alles, aber was ich mach, das mach ich schnell und gut.“

Neobarockes Kunstwerk

Bjerg spielt in seinen Werken immer wieder mit Versatzstücken aus der Popkultur. Im neuen Buch säuft die Jugend merkwürdige Getränke aus Einhornpulver und amüsiert sich in surrealen Clubs, als befände man sich in einer kruden Star-Wars-Nebenserie.

Für die Fans des Autors gibt es zudem einige Verweise auf die Vorgängerromane zu entdecken, etwa wenn Annas Vorweiner in ein matschiges Kohl-Kartoffelgericht, das sich wie ein kleiner Hügel vom Teller erhebt, mit einem Löffel kleine „Serpentinen“ eindrückt.

Der Tod ist in allen Büchern Bjergs präsent. Bislang hat sich der Schriftsteller mit vergangenen Lebenskrisen und mit dem Selbstzweifel seiner Figuren befasst, die in der herausfordernden Gegenwart verortet sind. Der Blick in die Zukunft liest sich nun als düster-visionärer Komplementärtext, der keine Hoffnung mehr anbietet auf die Gesundung der menschlichen Seele. Bov Bjerg hat ein neobarockes Kunstwerk verfasst, das in der zeitgenössischen Literatur seinesgleichen sucht.       

Zeitgenossen Bov Bjerg: „Es ist mir wichtig, keine Phrasen stehenzulassen“

Der 1965 im schwäbischen Heiningen geborene Schriftsteller und Kabarettist Bov Bjerg, der mit bürgerlichem Namen Rolf Böttcher heißt, ist Absolvent des renommierten Deutschen Literaturinstituts in Leipzig. Mit seinem Roman „Auerhaus“, der inzwischen verfilmt wurde, gelang ihm der literarische Durchbruch.

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Buchkritik Bov Bjerg – Der Vorweiner

Bov Bjergs satirisch-dystopischer Roman „Der Vorweiner“ erzählt von einer medial und emotional kontrollierten Klassengesellschaft, in der privilegierte Menschen kaum noch Gefühle entwickeln können.

Rezension von Carsten Otte.
Claassen Verlag, 240 Seiten, 24 Euro
ISBN 9783546100380

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Carsten Otte