Empfehlung mit Lesung

Natalja Kljutscharjowa – Tagebuch vom Ende der Welt

Stand
Autor/in
Lukas Meyer-Blankenburg

Ein wichtiges literarisches Zeugnis über das Leben 2023 in Russland: die Schriftstellerin Natalja Kljutscharjowa beschreibt in ihrem „Tagebuch vom Ende der Welt“ den russischen Alltag zwischen Gewalt und Depression.

Der Krieg ist nach wie vor das alles beherrschende Thema. Diese Woche gab es Berichte von ersten, möglicherweise wesentlichen Erfolgen der ukrainischen Armee. Wovon es aber mittlerweile fast gar keine Berichte mehr gibt: von den Menschen in Russland, die gegen diesen Krieg sind. Die meisten sind verstummt, viele geflohen, viele verhaftet oder haben unter sehr merkwürdigen Umständen Suizid begangen.

Als Kriegsgegnerin Feind im eigenen Land

Eine, die geblieben ist und nicht schweigen will, ist die russische Schriftstellerin Natalja Kljutscharjowa. Sie führt seit Februar 2022 ein Kriegstagebuch. Unter dem Titel: Tagebuch vom Ende der Welt ist das nun auf Deutsch erschienen. Ein Auszug, von vor einem Jahr, September 2022, Putin hat die Teilmobilmachung verkündet:

September 2022
Ich saß mit der Französin Marie, einer Fotografin, im Café. Im Telefon las ich, dass Putin die Teilmobilmachung verkündet hat. Ich schaute auf – es war merkwürdig, das ganz normale Leben um mich herum zu sehen. Ich sagte zu Marie: Lass uns die Leute fotografieren, die hier friedlich Kaffee trinken, und darunter schreiben: „Nach der Verkündigung der Mobilmachung“. Sie fotografierte. Dann gingen wir raus auf die Straße. Ein Mann schob einen Kinderwagen und brüllte in sein Telefon: „Von wegen Erfahrung, Scheiße, sie werden alle holen, ohne Ausnahme!“

„Sie haben ihn am hellichten Tag abgeholt.“

Aus dem Brief der Mutter eines Einberufenen: „Mein Sohn mit seiner Sehschwäche von -12 sieht nicht einmal, was für eine Waffe er in der Hand hält. Sie haben ihn am hellichten Tag abgeholt, sie ließen ihn nicht einmal die passende Brille mitnehmen.“

Was für eine Zukunft kann ein Land haben, in dem die Armee eine staatlich sanktionierte Institution von Gewalt und Erniedrigung ist? Die Menschen, die von dieser Gewalt infiziert sind, leben danach überall im Land und tragen die Gewalt in ihre Familien. Und erziehen ihre Kinder in diesem Geist. Und dann schicken sie ihre Kinder eigenhändig in den Krieg, weil sie nichts anderes kennen. Weil ihnen nicht einmal der Gedanke kommt, dass das nicht normal ist, dass das ein Trauma ist, aus dem sie ausbrechen müssten. Aber wohin sollen sie ausbrechen, wenn sie keine Schriftsteller sind, die diese furchtbare Erfahrung in einem Text verarbeiten können.

Russland versinkt in Gewalt

Dieses Land ist ein grausames und monströses Gebilde. Und jetzt geht es mit grausamer und monströser Gesetzmäßigkeit zugrunde, weil es so nicht lebensfähig ist. Gewalt ist kein Leben. Jetzt wird dieses Land in einen Strudel gezogen, den seine eigene Gewalt erzeugt hat. Und wer sich der Gewalt verweigert, geht weg oder versteckt sich. Wenn diese ganze durch Gewalt vergiftete Welt zusammengebrochen sein wird, werden sie in die Ruinen zurückkehren und hier eine andere Wirklichkeit aufbauen.

Stand
Autor/in
Lukas Meyer-Blankenburg