Eine Katze nicht nur zum Kuscheln

Der grandiose Gedichtband „WÜ“ von Thomas Kunst

Stand
Autor/in
Carsten Otte
SWR Kultur Literaturkritiker Carsten Otte
Onlinefassung
Katrin Ackermann

Ein Gedichtband, der durch seine Formenvielfalt überzeugt. Kleist-Preisträger Thomas Kunst schreibt anmutige Sonette über die Familie und weiß auch mit scharfzüngiger Lyrikkritik zu unterhalten. Im Mittelpunkt steht eine Katze namens WÜ.

Wer oder was ist mit WÜ gemeint?

WÜ – das ist zunächst einmal der Name einer Katze, an die der Dichter Briefe schreibt, die streng durchkomponiert sind. Diese erzählerischen Texte mit präziser Rhythmik sowie genauer Datumsangabe reflektieren nicht nur das Seelenheil des lyrisches Ichs, sondern sind auch Strukturelemente in einem Gedichtband, der eine ungeheure Formenvielfalt bietet.

WÜ ist dabei nicht nur ein tierischer Begleiter, Trostspender und „Bewegungsmelder“, wie Thomas Kunst formuliert. WÜ gilt dem Dichter auch als eine „Wüste mit Wünschen“, in der dann sprachlich versanden darf, was zuvor mit Präzision und Gespür fürs klassische Gedichtformat entwickelt wurde.

Was heißt hier Formenvielfalt? – Beispiel Tanka

Neben den erzählerischen Gedichten, die sich manchmal graphisch zum Ende hin wie bei einem Tropfen verschlanken, und die auf den ersten Blick vielleicht etwas anarchistisch daherkommen, beherrscht Kleist-Preisträger Thomas Kunst sein literarisches Handwerk, auch und vor allem was traditionelle Formen der Dichtung anbelangt.

Der Band enthält einige reimlose Kurzgedichte, die sich an der über 1300 Jahre alten, japanischen Tanka-Lyrik orientieren. Ein Tanka-Gedicht ist in 31 Moren gehalten, wobei die More eine Maßeinheit für das sogenannte Silbengewicht ist. Die Morigkeit beschreibt in der Phonologie also die quantitative Eigenschaft einer Silbe. Dabei sind offene Silben mit Kurzvokal von einmoriger Dauer und geschlossene Silben wie etwa der Artikel „das“ von zweimoriger Dauer. Bei Thomas Kunst lesen wir etwa folgendes Tanka-Gedicht:

Musik von Gestern.
Mein Sohn hatte früher mal
Eine Kassette
Von mir unterm Kopfkissen
Meine Tochter brauchte Schlaf.

Die Kunst des lyrischen Handwerks – Beispiel Sonett

In vielen Gedichten des Bandes geht es um familiäre Strukturen, die fragil oder gar zerbrochen sind. Die fünf Zyklen im Hauptteil des Gedichtbandes sind nach verwandtschaftlichen Beziehungen geordnet: Vater, Mutter, Schwester, Sohn und Tochter erhalten jeweils einen eigenen Zyklus. Der Vater, der in den siebziger Jahren im „VEB Bau- und Montagekombinat Industrie“ malochte, ist mittlerweile schwer krank und lebt in einem Heim.

Im Heim gibt es den Stuhl, das Fensterbrett.
Mein Sohn bringt Haselnusslikör, ich sterbe,
Und meine Tochter, der ich nichts vererbe,
Kein Gartengras und kein Baguette.

Kunsts Lyrik mit Familienbezug ist oft in der klassischen Sonettform gehalten. Wir lesen also Gedichte aus zwei gereimten Strophen mit je vier Versen und zwei Strophen mit je drei Versen.

Thomas Kunst zeigt sich hier als ein Meister dieser Form, die er nicht nur inhaltlich, sondern auch syntaktisch aufbricht. Manchmal fehlt bewusst ein Verb, manchmal bleibt die Anspielung vage. Und doch erschließt sich das Sonett gerade auch durch die Form:

Wir haben heute Nacht nichts weiter vor.
Die Kinder sind längst aus dem Haus und staunen,
Wie sie als Elternteile ihre Launen
Zurückverfolgen mit Geschrei im Ohr.

Sie machen uns verantwortlich für das,
Was wir versuchten, das ist lange her,
Nur sind sie jetzt längst keine Kinder mehr
Und sollten uns verzeihen, dieser Hass

Gelangt in meinem Kopf als Summerton
Er langweilt mich in allen Jahreszeiten,
Lasst mich aus einer Überlegung raus.

Ich habe eine Tochter, einen Sohn.
Ich habe meine Katze zu begleiten.
Solange meine Frau in diesem Haus.

Was kann diese Könner-Lyrik? Der lyrisch-musikalische Echoraum  

Der 1965 geborene Thomas Kunst, der für seinen Roman „Zandschower Klinken“ für den Deutschen Buchpreis nominiert war, ist ein Dichter, der gerne weitergibt, wer oder was ihn inspiriert hat. Seit Jahren arbeitet er als Bibliothekar und ist schon durch seinen Brotberuf der literarischen Tradition verbunden. Er verneigt sich beispielsweise vor Klabund, dem vagabundierenden Poeten aus dem frühen 20. Jahrhundert, der ein Seelenverwandter Kunsts zu sein scheint.

Es lohnt sich, die Musikstücke nachzuhören, die im Anmerkungsapparat von „WÜ“ aufgelistet sind und die für Kunst „beim Schreiben unabdingbar“ waren, wie etwa die hypnotischen Kurztracks der Band „Idaho“ vom Album „The Lone Gunman“. Doch selbst wenn man sich auf den mitgelieferten Begleitsound einlassen möchte, die Dichtung überzeugt auch ohne akustischen Verstärker.

Welche „Themen“ treiben diesen Dichter an?

Die großen Sujets zeitgenössischer Dichtkunst werden nahezu nebenbei behandelt: Stadt-Land-Kontraste, Naturzerstörung, Identitätssuche in der verwalteten Welt. Das lyrische Ich geht auf „Tierspaziergänge“ in ostdeutschen Gefilden, träumt sich zugleich an ferne Meeresküsten „am Golf von Mexico“, die aber eher als Metaphern zu gelten haben.

In einem gar nicht verschwiemelten, sondern völlig ideologiefreien Sinn ist Kunst ein Heimatdichter, der Ruhe und Frieden auf dem Lande sucht. Mit Anmut beschreibt er die Sehnsucht, sich in Kriegszeiten endlich mit der Schwester zu versöhnen, wieder gemeinsam durchs „hohe Gras zu gehen“. Kunst besingt Vögel, Würmer und allerlei Gehölze. Doch er kann auch metalyrische Randale, wenn er den Kitsch der Kollegen kritisiert.

Es gab zuletzt das Beispiel eines Falles
Von Poesie in meinem Heimatland. Der Jubel zeigte, was ich nicht verstand: Familienfotos sind am Ende alles.

Ich glaube an die Macht von Kinderbildern.
Die Früchte auf dem Tisch sind nicht von hier.
Die Unterschiede zwischen Schnaps und Bier
Sind Ungereimtheiten, die schnell verwildern.

Wir lenken unser Augenmerk auf Knaben
Im Vordergrund wird Herkunft ausprobiert.
Das Küchenlicht gehört zu den Metallen.

Es ist nicht hilfreich, Hoffnungen zu haben,
Wenn neben dir Folklore explodiert
Und Aschefähnchen auf Gedichte fallen.

Metalyrische Randale und poetische Totenfeier

Gegenüber der liebsten WÜ wird die Dichterstimme noch polemischer, beklagt eine Sprache „der reaktionären Mobilmachung / Traditionell vertraulicher Befindlichkeiten und einer zu / Anekdotischem Pendelverkehr zwischen Autor und Publikum aufbereiteten Erzählweisen“, kritisiert die Posen „harmlos-kritischer Welt-Anrufungen, vorbei an einer / Zahnlosen jubelnden Literaturkritik“. Und da sollten Literaturkritiker natürlich aufhorchen und sich fragen, wie zahnlos die meisten Besprechungen heutzutage sind.

Die große Qualität dieses Gedichtbandes besteht auch darin, dass selbst die polemischen Passagen immer auch selbstironisch daherkommen. Am Ende gibt sich Thomas Kunst versöhnlich.

Im Schlussgedicht lädt der Dichter zu einem Festival des poetischen Übermuts in die Provinz ein, das nicht in gediegener Atmosphäre einer Stipendienvilla, sondern auf roter Asche im Kreise auch der toten Dichter stattfinden soll. Zu der obskuren Lyrikfeier auf dem Lande, auf der „sich zu Orgien auswachsenden, sprachlichen Reinlichkeits-Übertretungen“ gehuldigt werden darf, würde man allzu gerne anreisen.

Wir bereiten den Kongress vor, ich halte den Tennisplatz
Sauber, falls die Verstorbenen kommen, Eigner, Meckel,
Böhmer, Neumann, Salvatore, nur Männer, ich weiß,
Aber die Dichterinnen, die ich liebe, leben noch.

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