Im Winter 1912 ertrank der Dichter Georg Heym beim Schlittschuhlaufen. Über 80 Jahre später, im Jahr 1995, sollen die Neuankömmlinge einer Schauspielschule Heyms rätselhaftes Faust-Fragment inszenieren.
Druck und Konkurrenz steigen innerhalb der Gruppe, bis Wahn und Wirklichkeit verschwimmen. Dann wird ein Toter auf der Probebühne gefunden. Hat der Teufel seine Finger im Spiel?
Ein literarischer Hexenofen, in dem viele Gewissheiten in Flammen aufgehen.
Das Unheimliche ist zentraler Topos in Neudeckers Schaffen
Mit ihrer "Sommernovelle" veröffentlichte die 1974 geborene Schriftstellerin Christiane Neudecker einen Bestseller, der von zwei Schülerinnen aus Süddeutschland handelt, die auf der Nordseeinsel Sylt eine Vogelstation besuchen und sich dann für die Natur einsetzen wollen.
Neudecker hat eine Reihe von Romanen und Kurzgeschichten veröffentlicht, die sich in lakonischer Weise immer wieder mit dem Unheimlichen beschäftigen.
Studiert hat die Autorin an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch in Berlin, und ihre Studienerfahrungen scheinen auch in ihren neuen Roman einzufließen.
Georg Heyms "Der Gott der Stadt" diente als Inspiration für diesen Roman
Diese Schriftstellerin ist eine Sprachhexe. Christiane Neudecker lockt ihr Publikum gerne in ein geheimnisvolles Erzählhäuschen, in dem freilich nicht geknuspert werden darf, sondern alles, was mit heiligem Ernst eingeführt wurde, im literarischen Höllenofen landet.
Der Romantitel "Der Gott der Stadt" bezieht sich auf ein gleichnamiges Gedicht von Georg Heym, den legendären Düsterpoeten, der im Januar 1912 mit 24 Jahren beim Schlittschuhlaufen ins Eis der Havel einbrach und der nach seinem frühen Tod ein schmales, aber gleichwohl bedeutendes Werk mit expressionistischer Lyrik, unfertigen Dramen und Novellen hinterließ.
Neudeckers Roman weist viele Parallelen zu Heyms Gedicht auf
Bei Heym ist der Gott der Stadt ein blutrünstiger Baal, der sich am urbanen "Korybanten-Tanz" ergötzt, an den orgiastischen Ritualen jener Dämonen, die nach antiker Vorstellung die Göttermutter Kybele begleiten:
Von Irrungen und Wirrungen sehr unterschiedlicher Art erzählt auch Neudeckers Roman, in dem die Götter immer auch ihre teuflischen Seiten zeigen.
Ein Regie-Jahrgang einer Hochschule wird auf die Probe gestellt
Der berühmte Regisseur und Theatergott Korbinian Brandner übernimmt jedenfalls 1995 an der Ost-Berliner Hochschule für Schauspielkunst Erwin Piscator einen neuen Regie-Jahrgang.
Katharina, Tadeusz, Schwarz, François und Nele haben die fünf begehrten Plätze ergattert, und gleich zu Beginn des Studiums müssen sie sich beweisen. Brandner hat eine Prüfung angesetzt, die wie ein lustiges Studienspiel anmutet und sich als bitterböser Theaterernst entpuppt.
Ein rätselhaftes Faust-Fragment soll auf die Bühne gebracht werden
Aus einem rätselhaften Faust-Fragment Georg Heyms soll eine vorzeigbare Inszenierung entstehen, die pünktlich zum Todestag des Dichters auf einer universitären Probebühne aufgeführt werden soll.
Brandner, ganz Schauspielsatan, schwört die eingeschüchterte Studiengruppe im seltsam weihevollen Ton ein.
Teamgeist existiert nur auf dem Papier
Die eigenen Dämonen lernen die fünf Regielaien schon allein deshalb kennen, weil Brandner jedem Zögling unterschiedliche Bruchstücke des Fragments zuteilt, die zunächst in Eigenregie analysiert und interpretiert, dann aber zusammen mit den Kommilitonen für die Bühne erarbeitet werden müssen.
Neid beherrscht das Team, das keines ist. Welche Recherchen, fragen sich die überengagierten Studienanfänger, müssen geteilt, welche Informationen besser für sich behalten werden, um beim großen Schauspielmeister zu punkten?
Bald findet sich das alte Faust-Thema inmitten der Studenten wieder
Das alte Faust-Thema ist viel näher, als die Ich-Erzählerin Katharina zunächst glauben mag. Welchen Preis ist sie bereit zu zahlen? Muss sie sich mit dem Teufel einlassen, gar selbst einer werden, um den angebeteten Professor zu überzeugen?
Oder sollte sie besser gegen die in ihrer Männermacht so herablassenden Professorengarde rebellieren, wie es Schwarz tut, der offenbar ganz eigene Pläne verfolgt?
Personale Erzählperspektive bringt dem Leser die einzelnen Charaktere näher
So wenig er mit dem Prüfungsstress zu tun haben will, ganz ausnehmen kann sich auch Schwarz nicht vom Konkurrenzkampf, der alle zu Bühnenfiguren macht, die ihre Stärken und Schwächen im Scheinwerferlicht nur schlecht verbergen können.
Neudecker leuchtet ihre so widersprüchlichen und gerade deshalb sympathischen Helden in jeweils eigenen Kapiteln aus, die in personaler Erzählperspektive gehalten sind.
Ein probates Mittel, um nicht nur die Glaubwürdigkeit Katharinas, also die der zentralen Erzählstimme zu erschüttern, sondern auch die Ängste und Neurosen, vor allem aber die Missgunst untereinander darzustellen.
Der Selbstmord eines Studenten wirft Fragen auf
Dermaßen schwer lastet der psychische Druck auf den fünf, dass der Sensibelste nur im Tod einen Ausweg zu finden scheint. Ist der spektakuläre Suizid womöglich der letzte Versuch eines verzweifelten Schülers dem morbiden Heym-Fragment gerecht zu werden?
Oder handelt es sich schlichtweg um einen teuflischen Racheakt gegenüber der Prüfungskommission, die nun am medialen Pranger steht?
Die Schlagzeilen verfehlen ihre Wirkung nicht, zumal bald herauskommt, dass der Theatergott zu DDR-Zeiten einen Pakt mit dem Stasi-Teufel eingegangen ist, um die eigene Karriere voranzutreiben.
Verschiedene literarische Gattungen treten in ein produktives Wechselspiel
Der sprachliche Clou dieses Romans aber, der die Untiefen der Literatur genauso wie die des Lebens auslotet, besteht vor allem darin, dass die Autorin Lyrik, Prosa und Drama miteinander verbindet, dass sie die literarischen Gattungen in ein produktives Verhältnis setzt, ohne ihre Eigenständigkeiten zu schleifen.
Neudecker nimmt das narrative Moment der expressionistischen Lyrik ernst und erzählt mit dem rauschhaften Treiben der Theaterschüler im nasskalten Nachwende-Berlin tatsächlich eine Art Korybanten-Tanz.
Seelenverwandte: Georg Heym und Christiane Neudecker
Die Autorin, die selbst an einer Berliner Schauspielschule studiert hat, weiß auch, dass sich nicht aus jedem Fragment eines genialen Dichters ein gutes Theaterstück inszenieren lässt.
Wenn nämlich der größte Sprachkünstler zwischendurch mal etwas aufs Papier kritzelt, das die Nachwelt besser nicht überbewerten sollte.
Neudeckers wohldurchdachte Prosapoesie verknüpft die unterschiedlichen Sprach- und Motivebenen kunstvoll miteinander, ohne mit dem literarischen Geflecht anzugeben.
Vielmehr ist bei der Lektüre das Lachen einer herrlich durchtriebenen Schriftstellerin zu hören, die in ihrem literarischen Hexenofen einige Gewissheiten in Flammen aufgehen lässt.
Insofern ist sie mit dem Dichter Georg Heym durchaus seelenverwandt, der in seinem Gedicht schließlich ein "Meer von Feuer" durch die Straßen jagt.