Buchkritik

Norbert Gstrein - Vier Tage, drei Nächte

Stand
Autor/in
Carsten Otte

Der vielfach ausgezeichnete Tiroler Schriftsteller Norbert Gstrein erzählt mit seinem neuen Roman „Vier Tage, drei Nächte“ das komplizierte Beziehungsgeflecht der Halbgeschwister Elias und Ines in Zeiten der Pandemie. Ein kunstvoll gebauter, politisch hochbrisanter Text, der nicht nur die Abgründe egomanischer Sehnsucht beschreibt, sondern auch die Ängste der Figuren, niemals im eigenen Leben anzukommen.

Ein Roman von Norbert Gstrein gleicht einem Erzähllabyrinth - und am Ausgang wartet noch eine böse Überraschung

Die letzten Romane Norbert Gstreins gleichen Häusern mit vielen Türen, und ganz gleich welchen interpretatorischen Eingang man wählt, um den Kern der Geschichte näher zu kommen, befindet man sich doch immer in einem unübersichtlichen Erzähllabyrinth mit oft gebrochenen und auch schauderhaften Charakteren, die durch enge Gänge mit vielen Spiegeln herumirren.

Erst wenn alle Wege abgelaufen sind, erschließt sich allmählich die Konstruktion, wobei viele Fragen zu den ambivalenten Figuren bleiben und am Ausgang noch eine böse Überraschung wartet.

Ein Weg in den neuen Roman könnte die Figur des patriarchal-rüpelhaften Vaters sein

Im Falle des neuen und wiederum kunstvoll gebauten Werks „Vier Tage, drei Nächte“ könnte ein Weg in den Text die Figur des patriarchal-rüpelhaften Vaters sein, der ein gehobenes Hotel in den Tiroler Alpen führt - gewissermaßen ein Grundmotiv in der Prosa Gstreins. Wir befinden uns in Pandemie-Zeiten, was den Gastwirt nicht abhält, seinen Sohn Elias für ein überlanges Eröffnungswochenende der Wintersaison engagieren zu wollen.

„Zuerst verstand ich gar nicht, worum es ging, aber dann stellte sich heraus, dass er trotz des Hotspots, den er im Frühjahr im Haus gehabt hatte, sein legendäres Vier Tage, drei Nächte stattfinden lassen wollte, die traditionelle Preseason-Sause, zu der er auch in anderen Jahren vor Beginn der eigentlichen Saison ausgewählte Gäste eingeladen hatte. Dafür fehlte es wieder einmal an Personal, und er benötigte mich als Kellner. Denn die festen Mitarbeiter waren ihm einer nach dem anderen abgesprungen, sowie sie gemerkt hatten, welches Risiko sie eingingen, mit den Sicherheitsbestimmungen in Konflikt zu geraten, wenn sie sich auf seine Schnapsidee einließen.“
(Aus Norbert Gstrein: Vier Tage, drei Nächte)

Der Vater bietet viel Geld, „einen Tausender am Tag“, lockt ihn mit „Schnee wie seit zwanzig Jahren nicht“, aber Elias möchte mit dem Mann, einem schlimmen Lügner, möglichst wenig zu tun haben.

Als Elias erfährt, dass Ines seine Halbschwester ist, hat er sich schon längst in sie verliebt

Erst als es nicht mehr zu verheimlichen war, hat Elias nämlich erfahren, dass ein Mädchen namens Ines, das regelmäßig mit der Mutter im Hotel zu Gast war, seine Halbschwester ist. Da war der pubertierende Hotelsohn aber schon längst verliebt, zumindest auf intensive Weise von Ines angezogen, und diese enge Bindung wird sich auch nicht mehr auflösen. Die beiden wohnen im Laufe der folgenden Jahre immer mal wieder zusammen, in Innsbruck und später in Berlin, und sie verbringen auch die Nächte regelmäßig im selben Bett.

„Sie trat lautlos durch die offene Flügeltür, kaum dass ich mich hingelegt hatte, und schob mich ohne ein Wort zur Seite. Dann schmiegte sie sich von hinten an mich, drückte mir die Hände vorsichtig auf die Brust, genau über meinem Herzen, und wartete.“
(Aus Norbert Gstrein: Vier Tage, drei Nächte)

Abgesehen von der eigenen Schwester steht Elias nur auf Männer

Die unmögliche Liebe der Geschwister ist ein klassisches Thema der Literatur, und Norbert Gstrein entwickelt aus dieser Grundkonstellation ein erschütterndes Beziehungsgeflecht: Ines schleppt immer wieder Liebhaber an, die Elias entweder vergrault oder verführt. Denn abgesehen von der eigenen Schwester steht der Bruder nur auf Männer, was jede neue Dreiecksgeschichte zu einem Drama macht.

Matt gehört zu jenen Freunden der Schwester, die sich von Elias fernhalten, sein dunkles Spiel durchschauen. Was ihn beinahe das Leben gekostet hätte. In einer Therapiesitzung erinnert sich Elias an die verhängnisvolle Wanderung mit Ines und Matt, die in den Abgrund führte.    

„In der Sprache war der Unterschied gar nicht so groß, ich fiel nach vorn, oder ich ließ nach vorn fallen, und in der Wirklichkeit war er noch kleiner, wenn man müde vom stundenlangen Gehen war und einen Augenblick nicht achtgab. Ich sagte zu der Therapeutin, ich hätte Matt nicht gestoßen, aber natürlich schlug ich gegen ihn, und er stürzte mit seinem monströs großen Rucksack Hals über Kopf über die Steine und kam zwanzig oder dreißig Meter tiefer zu liegen.“
(Aus Norbert Gstrein: Vier Tage, drei Nächte)

Zu Elias' Charakter gehört eine Mischung aus narzisstischem Ingrimm und krasser Empathielosigkeit

Matt überlebt den Angriff, und Elias wird sich in der Therapie nur oberflächlich mit seinem boshaften Verhalten beschäftigen, das offensichtlich einem Muster folgt. Ein „Gebräu aus Macht und Eifersucht“ treibt ihn an, und Elias weiß um seine Schuld.

Schon in Kindertagen hat er seine Altersgenossen ins Verderben geführt. „Ekelhaft“ nennt der Ich-Erzähler seine „unkontrollierte Leidenschaft“, und schon im ersten Satz des Romans zeigt sich die paradoxe Haltung, eine Mischung aus narzisstischem Ingrimm und krasser Empathielosigkeit.

„Keiner von diesen Idioten hat Ines geliebt, wie ich sie geliebt habe und nach wie vor liebe, aber dass sich wiederholt einer fand, der sich das einbildete, ist eine andere Geschichte.“
(Aus Norbert Gstrein: Vier Tage, drei Nächte)

Geht es hier wirklich nur um die Geschichte des aggressiv-unzuverlässigen Erzählers?

Welche und wessen Geschichte aber wird hier überhaupt verhandelt, mag man sich vor allem beim zweiten Gang durchs Buch fragen. Nur die des aggressiv-unzuverlässigen Erzählers? Durchaus erstaunlich, dass Ines den übergriffigen Bruder nicht deutlicher in Schranken weist. Liegt es an ihrer ebenfalls stark ausgeprägten Halt- und Heimatlosigkeit?

Ines rastet aus, als sie erfährt, dass der Vater auch noch eine sechzehnjährigen Küchenhilfe geschwängert hat. Emma heißt die geistig behinderte Schwester, die in einem Heim untergebracht ist, auch weil der Vater sich nicht um sie kümmern will.

Dass sich Ines über „die romantische Liebe in der deutschsprachigen Literatur“ habilitieren will, ist eine perfide Pointe Norbert Gstreins

Lieblosigkeit und zwanghafte Sehnsucht nach Liebe prägen dieses selbstzerstörerische Familienleben. Es ist schon mehr als eine perfide Pointe Norbert Gstreins, dass Ines plant, sich über „die romantische Liebe in der deutschsprachigen Literatur zu habilitieren“ – was Elias bissig und gewohnt eifersüchtig kommentiert.

„(…) aber ob sie das auch im Leben klüger machte, wage ich nicht zu beantworten.“
(Aus Norbert Gstrein: Vier Tage, drei Nächte)

Elias ist nicht annähernd so erfolgreich wie seine Schwester. Das Studium hat er geschmissen, eine Ausbildung zum Helikopterpilot abgebrochen. Seinen Lebensunterhalt verdient er als Flugbegleiter, was der Vater für völlig widersinnig hält, weil er nicht begreift, dass Elias auch deshalb ständig verreisen möchte, um der Familiengeschichte zu entfliehen.

Mit dem „Knochenjob eines Stewards“ kommt immerhin ein wenig Entspannung, ja: Glück in sein Leben. Er lernt Carl kennen, der für dieselbe Fluglinie arbeitet. Die beiden werden ein Paar, die Schwester sieht Elias in dieser Zeit etwas seltener. Doch dann reisen sie zu dritt nach Italien, ein kurzer Trip zum Jahreswechsel – vier Tage, drei Nächte – und nun dreht sich das Romangeschehen noch einmal um die eigene Achse.

Ines verhält sich auch nicht viel besser als Elias

Das Beisammensein im Süden führt nicht nur an die Grenzen Europas, sondern auch zur Frage, wie eine beschädigte Identität zur sprachlichen Waffe wird. Es ist ein furioses und gewiss verstörendes Finale, in dem eher nebenbei angedeutet wird, dass Carl ein Schwarzer ist. Ines wird ausgerechnet über dessen Hautfarbe einen nicht nur literarischen Angriff starten, der die Beziehung des Bruders zu Carl zertrümmert. Die Schwester verhält sich also auch nicht viel besser als der Bruder. War es vielleicht sogar Rache?

Womit der Text, der so vieles so lange in der Schwebe gehalten hat, wieder an den Ausgangspunkt zurückkehrt. Norbert Gstrein schreibt nahezu ohne moralischen Impetus über ein Diskursraum, der sowohl in seiner labyrinthischen Struktur als auch in seiner normativen Überfrachtung für viele Menschen zunehmend bedrohlich erscheint: Wer darf was in welcher Situation sagen? Und was bedeuten die gesprochenen Worte tatsächlich für die Identität der Sprechenden?

Keine Rezension wird alle dunklen Geheimnisse dieses überaus gelungenen Buchs gänzlich analysieren können

„Drei Arten, ein Rassist zu sein“ heißt dann auch das provokante Schlusskapitel des Romans. Das Virtuose an Gstreins Literatur besteht nun darin, dass er einige Spiegelwände splittern und über die bewusst überkomplexe Erzählstruktur eine Sehnsucht nach rhetorischer Reduktion entstehen lässt, ohne an völlig naive Traditionslinien anzuknüpfen.

Dieser Roman bietet eine intellektuelle Lektüre, ohne verkopft zu sein. Beeindruckend wie immer bei Gstrein sind die Satzschlangen, die sich um die bitteren Gedankengänge der Protagonisten winden. So entwickelt die Prosa gerade in heftigen Szenen eine seltsam schöne Sinnlichkeit.

Und je länger ich über diesen Roman nachdenke, desto deutlicher wird mir bewusst, was ich alles vergessen habe zu erwähnen. Keine Rezension wird alle dunklen Geheimnisse dieses überaus gelungenen Buchs gänzlich analysieren können.


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Autor/in
Carsten Otte