Buchkritik

Inger-Maria Mahlke – Unsereins

Stand
Autor/in
Carsten Otte

Mit „Unsereins“ hat Inger-Maria Mahlke ein literarisches Sittengemälde der norddeutschen Handelsstadt Lübeck am Ende des 19. Jahrhunderts geschrieben. Während Thomas Mann in den „Buddenbrooks“ den Aufstieg und Fall einer Kaufmannsfamilie erzählte, kontrastiert Mahlke in ihrem Roman die Lebensgeschichten der Hausangestellten, Lohndiener und Kinder aus einfachen Verhältnissen mit den Krisen der bürgerlichen Oberschicht.

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Auch ein eitler Schüler namens Tomy taucht in der grandios komponierten Geschichte auf: Mit seinem Beststeller über Lübeck wird der einst als „Pfau“ verspottete Jungautor das merkantile und liberale Grundverständnis der Stadt in Frage stellen.

Der Roman beginnt im Januar 1890 in der Hansestadt Lübeck, dem „kleinsten Staat des Deutschen Kaiserreichs“, wie es im Vorspann heißt.

„Eigentlich der zweitkleinste: Bremen hat weniger Fläche und ein obskures Fürstentum Köstritz weniger Einwohner: Jedoch: zweitkleinster klingt mickrig.“

Im Lübecker Bürgertum wird ein skurriler Hochmut kultiviert, eine Haltung, die in einem anderen, weltberühmten Buch schon ausgiebig beschrieben wurde. So wird im Klappentext von Mahlkes Roman „Unsereins“ leicht schnippisch gefragt: „Sind Sie mit den Buddenbrooks bekannt?“ Doch anders als bei Thomas Mann stehen in Mahlkes Gesellschaftsportrait nicht die wirtschaftlichen und politischen Eliten der ehrwürdigen Hansestadt im Mittelpunkt.

Mahlke kontrastiert vielmehr die Leidensgeschichten der Angestellten und Arbeiter mit den zum Teil dekadenten Lebensentwürfen der Oberschicht. Da ist zum Beispiel Ida, die sich um den Haushalt der Familie Lindhorst kümmert.

„Ida hält inne. Die Schlafzimmer sind gemacht, Öfen ausgefegt und angefeuert, Toiletteneimer abgeholt. Die Gnädige ruht nach dem Frühstück, um halb zwölf kommt der Arzt, um nach ihrem Bauch zu sehen. (…) Ida kann die Zehn-Uhr-Glocken von St. Jakobi bereits in den Gliedern fühlen. In wenigen Minuten werden sie das Kristall im Buffet des Esszimmers zum Schwingen bringen.“

Die gesellschaftliche Rangordnung in der Schule

Friedrich Lindhorst ist Rechtsanwalt. Seine Frau hat bereits sieben Kinder zur Welt gebracht, nun ist sie schon wieder schwanger. Georg Presswitz kennt die Lindhorst-Söhne vom Gymnasium, selbst wenn die den zugezogenen Jungen aus einfachen Verhältnissen zumeist ignorieren. Georg – eine Zentralfigur in Mahlkes Roman – ist in Berlin aufgewachsen; seine Mutter lebt noch immer in der Hauptstadt des Deutschen Reiches. In Lübeck fühlt sich Georg einsam und fremd, was nicht zuletzt an der gesellschaftlichen Rangordnung liegt, die auch in der Schule gilt.

„Über allen, ganz oben, stehen die Ostelbischen und die Einheimischen, hinter deren Namen ein Vater Senator oder Vater Konsul nachklappt. Oder, weniger ehrfürchtig geflüstert, ein Vater Bürgerschaftsmitglied.“

Ein Roman als Ratespiel

Zu den Kindern, die ganz oben stehen, gehört auch Tomy, der von seinen Mitschülern „der Pfau“ genannt wird. Dessen Vater ist bzw. war der Kaufmann und Politiker Thomas Johann Heinrich Mann. Eher am Rande erzählt Mahlke vom Tod des einflussreichen Senators im Oktober 1891 und dem dann einsetzenden Zerfall der Familie Mann. Tomy wird später mit einem Buch im Gepäck nach Lübeck zurückkehren. Gemeint ist der biographisch gefärbte Roman „Buddenbrooks“, für den Thomas Mann 1929 den Literaturnobelpreis erhält. In Lübeck wird das Werk schon kurz nach Erscheinen zum Stadtgespräch. Die Leute haben große Freude, darüber zu spekulieren, „wer in Wirklichkeit wer und ‚wunderbar getroffen‘ ist.“

„Es ist das Spiel der Saison. Bei jedem Dinner werden nach dem Dessert Papier und Stifte ausgeteilt. Wer-ist-wer im Roman. Jeder für sich schreibt eine Liste, und beim Likör vergleichen alle und diskutieren.“

Rechtsanwalt Lindhorst beteiligt sich nicht an diesen Spielchen. Zumal auf seiner Schreibtischauflage eine „Deutschnationale Monatsschrift“ liegt, die ihn an längst vergessene Schmähungen erinnert. Heinrich, „der ältere der Mann´schen Söhne“, zeichnet als „Schriftleiter“ verantwortlich. Thomas hat in dem Blatt, in dem Beiträge über das „Allgermanenthum und Das neue antisemitische ABC“ erscheinen, auch einen Artikel veröffentlicht. „Nicht das ganz schlimme Zeug“, heißt es in Mahlkes Roman. Aber Vater Lindhorst muss seinem Sohn nun erklären, dass die Familie selbst seit Generationen immer wieder mit antijüdischen Ressentiments zu kämpfen hat.    

„‘Zeigst du dich getroffen, haben sie ihr Ziel erreicht, widersprichst du, fühlen sie sich nur bestätigt. Man würde sich ja nicht verteidigen, wenn an ihrem Gelüge nichts dran wäre (…) Mein Vater hat gebrüllt, meine Mutter sich kleingemacht, beides hat nichts genützt.‘“

Inger-Maria Mahlke beschließt ihren Roman „Unsereins“ mit dem Satz: „Aber vielleicht ist dies nicht das Ende, sondern nur der Anfang.“ Tatsächlich wirken die sozialen und politischen Krisen, die Mahlke bis ins Jahr 1906 beschreibt, als Vorstufen für die verheerenden Konflikte im 20. Jahrhundert. Manchmal geht es – gewissermaßen als Running Gag – auch nur um den grotesken Streit in der Lübecker Politik, endlich mehr Häuser mit „Wasserclosetts“ auszustatten.

Wichtige Stimmen in diesem vielschichtigen Werk sind Frauenfiguren, die gegen patriarchale Gesellschaftsregeln aufbegehren. Henriette, die Stieftochter des Wasserbaudirektors Schilling, schreibt unter Pseudonym unterhaltsame Kurstadt-Geschichten und setzt sich ganz öffentlich für die „Entkriminalisierung der Liebe“ ein.

Im Kern handelt es sich bei „Unsereins“ um einen historischen Roman, der eine Parallelerzählung zu den berühmten „Buddenbrooks“ wagt. Sprachlich spielt die Autorin mit dem gediegenen Thomas-Mann-Tonfall. Sie adaptiert diesen Stil, und wenn es etwas zopfig werden sollte, ändert Mahlke kurzerhand den Erzählduktus, wechselt in eine schnelle Parataxe.   

„Erneut wenig Hauspost. Nicht dass sonst viel los wäre, aber es ist auffallend ruhig für den Tag einer Senatssitzung. Die hohen Herren sind abgelenkt, selbst der Widerstand der Wirtschaftskommission in der Closett-Frage wirkt leidenschaftslos, nicht so verbissen wie sonst.“

Drohnenperspektive

Wäre der Roman ein Film, erklärt eine nicht weiter charakterisierte Erzählstimme, würden Einstieg und Schluss „aus der Perspektive einer Drohne“ gedreht. Dieser cineastische Blick auf den Stoff lässt den Roman tatsächlich an historische Filmserien wie „Downton Abbey“ erinnern, die längst vergangene Zeiten mit modernen Stilmitteln erzählen.

Mahlke gelingt es, auf den knapp 500 Seiten einen übergeordneten, gewissermaßen gerechteren Blick auf die sozialen und emotionalen Verhältnisse zu bewahren, ohne dabei „von oben herab“ zu erzählen. Sie entwickelt die Figuren aus ihren jeweiligen Anlagen heraus, und zwar mit einer beindruckenden dramaturgischen Konsequenz. Bei aller ironischer Leichtigkeit des Textes enden Lebensläufe dann auch mal im Suizid.

Bei der Lektüre stellt man sich nicht nur einmal die Frage, was wohl Thomas Mann zu dem brillant-bissigen Buch gesagt hätte. Mahlkes Roman, der mit dem Entschlüsseln und erneutem Verschlüsseln des Buddenbrook-Personals spielt, ist dabei keineswegs ein Text für germanistische Exegeten und Thomas-Mann-Spezialisten. „Unsereins“ ist vielmehr eigenständige Literatur, die den historischen Gesellschaftsroman des frühen 20. Jahrhunderts auf den aktuellen Stand hebt.         

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Mit Büchern von José F.A. Oliver, Inger-Maria Mahlke, Søren Ulrik Thomsen, Thilo Diefenbach, John Updike und Lauren Groff

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Carsten Otte