Ein Mädchen läuft durch die Wildnis in Virginia Anfang des 17. Jahrhunderts. Geflohen aus der englischen Siedlung, in der es bisher lebte, angetrieben von Überlebensinstinkt und nackter Angst. Warum? Das enthüllt sich erst nach und nach. Lauren Groffs neuer Roman „Die weite Wildnis“ ist packend, überwältigend und seziert den US-amerikanischen Gründungsmythos mit üppiger Sprache, aber gnadenlosem Blick.
Schon mit dem ersten Satz von Lauren Groffs neuem Roman „Die weite Wildnis“ landet man mitten im nachtkalten Winterwald in Virginia Anfang des 17. Jahrhunderts. Ein Mädchen namens Lamentatio flieht aus einem Fort englischer Siedler, lässt Hunger, Tod und andere Schrecklichkeiten hinter sich.
Auf der Flucht durch die Wildnis
Getrieben von ihrem Überlebensinstinkt und einer nackten Angst, deren Grund sich nach und nach enthüllt, flieht das Mädchen gen Norden, in der Hoffnung, dort auf französische Siedler zu treffen. Sie weiß, jemand wird ihr folgen, hinter jedem Baum wittert sie einen Mann „mit kalter Mordlust im Blick“. Deshalb muss sie durch die unerbittliche Natur, die ihr anfangs als bedrohliche Falle erscheint: Sie friert, sie hungert, sie wird verletzt.
Detailliert beschreibt Lauren Groff diesen Überlebenskampf, jeden Bissen, jede Wunde, jeden Verdauungsvorgang, jedes Feuer, das die Fliehende entfacht. Das alles in poetisch üppiger und zugleich messerscharfer Sprache, deren drängenden, hymnischen Erzählrhythmus Stefanie Jacobs glänzend ins Deutsche übersetzt hat.
Auf der Flucht erinnert sich das Mädchen an sein bisheriges Leben: Als Säugling auf der Straße in London gefunden, wurde es im Waisenhaus auf den Namen Lamentatio Venal getauft, weil man glaubte, seine Mutter sei eine Prostituierte gewesen – noch dazu ist ihre Haut auffällig dunkel. Mit vier oder fünf Jahren kam Lamentatio zu einer einsamen Ehefrau, die ihr Haustier – ein dressiertes Äffchen – ersetzen wollte und dem Kind immer neue Namen gibt und allerhand Kunststücke beibringt. Für sie ist Lamentatio ein Wesen zur Unterhaltung, eine Dienstbotin, die tut, was man ihr sagt. Niemand fragt, was das Mädchen selbst will. Noch nicht einmal, ob sie mit über den Atlantik in die sogenannte neue Welt will.
Grausam und wunderschön – ein neuer Blick auf die Wildnis
Vor ihrer Flucht hat Lamentatio alles hingenommen: die Übergriffe der Männer im Haushalt oder im Fort. Die brutale Willkür ihrer Herrin. Ihre Stellung ganz unten in der Rangordnung. Nach einem tragischen Zwischenfall begehrt sie dagegen auf – und weiß, dass sie nun fliehen muss, um zu überleben.
Und inmitten der Natur beginnt sie zu verstehen: dass die Natur grausam und wunderschön ist, viel fordert, ihr aber auch viel gibt. Dass die englischen Siedler Grausamkeiten mit zweierlei Maß messen. Über die indigen Powhatan etwa sagen sie, sie seien so grausam, weil sie die Leiche eines englischen Mannes, der eine der ihren vergewaltigt hat, übel zurichten. Aber Lamentatio erinnert sich noch gut, dass auch in England die Köpfe von Feinden aufgespießt und auf der Straße ausgestellt wurden.
Sie durchschaut auf ihrer Flucht durch die Wildnis, dass die Lehren der anglikanischen Kirche Ungerechtigkeiten zulassen und oftmals rechtfertigen. Dafür hat Lauren Groff eine raffinierte Erzählperspektive gewählt: Sie bleibt überwiegend nah bei dem Mädchen. Manchmal aber blickt sie von oben herab auf Lamentatio und unterstreicht so noch einmal, dass sie nur ein Mensch inmitten dieser wahrlich weiten Wildnis ist.
Religion, Gewalt, Natur – bereits ein Thema im Roman „Matrix“
Bereits in ihrem vorherigen Roman „Matrix“ hat sich Lauren Groff mit dem Verhältnis von Religion, Gewalt, Gesellschaft und Natur auseinandergesetzt. „Matrix“ ist eine fiktionalisierte Biografie von Marie de France, die im 12. Jahrhundert zur Äbtissin eines Frauenklosters in England wurde. Auch sie hat die kirchlichen, männergemachten Lehren angezweifelt, gegen ihren Platz in der Gesellschaft mit Intellekt und Kalkül rebelliert.
Lamentatios Flucht 500 Jahre später wird indes zu einer eher spirituellen Reise, auf der sie die Ideen hinterfragt, die die Männer der Kirche ihr vorgeben. Ihren Glauben aber stellt sie nicht in Frage, sondern findet fernab anderer Menschen eine göttliche Ordnung in der Wildnis:
Und als sie dort lag in der laubgefüllten Kuhle, spürte sie, wie sie zu einem Baum wurde.
Und wie in einer Vision vernahm sie das geflüsterte Geheiß des Windes, sah das lockende, große Loch im Baum und sprang kopfüber hinein, worauf es sogleich zuwuchs, bis um sie herum alles schwarz wurde und die polternden Schritte der Jäger nicht mehr hörbar waren, nur noch eine Vibration im Holz. Dann das wunderbare Wachsen, ihre Füße, die sich genüsslich in den nahrhaften Lehm des Waldbodens gruben und dort verwurzelten, während die Krone über alle anderen Bäume hinauswuchs und sich ihre ausgestreckten Arme vervielfachten, aus Armen immer mehr Arme wuchsen, während die Finger barsten und sich als grüne Blätter der Sonne zuwandten. (aus: Die weite Wildnis)
Angriff auf beliebte US-amerikanische Narrative
Lauren Groff greift mit „Die weite Wildnis“ sprachlich brillant sehr konsequent eine Vielzahl US-amerikanischer Narrative an: Der Gründungsmythos des „Land of the Free“ erzählt von willensstarken Pionieren und vorbildlichen Puritanern, die mit ihrem Glauben und ihrem Charakter die Wildnis einer neuen Welt besiegt und besiedelt haben.
Lauren Groff setzt dem mit der klugen Wahl ihrer Protagonistin eine andere Perspektive entgegen, benennt brutal die Grausamkeiten der Siedler, schildert detailliert die körperlichen Details des Überlebens in dieser Welt. Dadurch entlarvt sie zudem, wie fehlgeleitet die romantische Vorstellung von der „einsamen Wildnis“ ist. Natur lässt sich nicht unterwerfen oder gar besiegen. Am Ende ist vielmehr klar: Die Zukunft – für Lamentatio und auch die Menschheit – liegt in einem Leben im Einklang mit der Natur.