Der Krieg ließ viele Kunstschaffende in der Ukraine vor Entsetzen verstummen. Nun erscheint ein Sammelband mit Texten von Lyrikerinnen und Lyrikern, die versucht haben, ihr Erleben des Krieges in Gedichten abzubilden. Das Buch „Den Krieg übersetzen“ ist ein zeitgeschichtliches und künstlerisches Dokument, das unter die Haut geht.
Mit Lyrik der Sprachlosigkeit begegnen
Das Gedicht „die botschafter des krieges“ von Daryna Gladun erinnert nahezu wörtlich an Paul Celans „Todesfuge“ – ein eindrückliches Gedicht, in dem Celan mit lyrischen Mitteln die Vernichtung der Juden durch die Nationalsozialisten thematisiert. Auch die ukrainischen Lyrikerinnen und Lyriker erleben den aktuellen Krieg in ihrem Land als radikalen Einschnitt, als lebensbedrohende Konfrontation, der nicht zu entkommen ist.
Claudia Dathe beobachtet, dass sich diese Erfahrung unmittelbar auf die poetische Sprache auswirkt. Darin findet sie auch die Begründung, warum Schriftstellerinnen und Schriftsteller Lyrik als geeignete Form wählen, über den Krieg zu schreiben: „Es ist eine starke Empfindung des Mosaikartigen. Die Sprachlosigkeit ließe sich – so haben die Dichter das formuliert – mit Lyrik besser einfangen, weil das Fragmentarische, dieses Immer-wieder-Aussetzen, den Bruch erleben, mit Poesie besser funktioniert.“
Wenn die Zeit aus den Fugen gerät
In vielen Gedichten, die seit 2022 in der Ukraine entstanden, wird die Wahrnehmung von Zeit reflektiert. Menschen, die das Grauen des Krieges beobachten, erleben offensichtlich den Ablauf ihres eigenen Lebens in veränderter Form.
„Viele Gedichte beschreiben dieses Gefühl einer unendlichen Gegenwart“, sagt Claudia Dathe. Im Moment, da der Krieg beginnt, sei das Leben, wie man es bisher kannte vorbei. Auch werde in den Gedichten thematisiert, wie Dinge des alltäglichen Lebens ihren Sinn verlören: „Kalender, Uhren. Die Omnipräsenz der Gewalt ist so dominierend, dass Zeiträume, Zeitabschnitte, Planungen, völlig ihre Bedeutung verlieren.“
Victoria Amelina wurde im Krieg getötet
Die Lyrikerin Victoria Amelina spricht in ihrem Gedicht „Keine Lyrik“ davon, dass die Erfahrung des Krieges ihre poetische Sprache zerstört.
Victoria Amelina war Mitglied des Übersetzungsprojekts von Claudia Dathe. Sie wurde vor einem halben Jahr im Krieg getötet. Während der Dokumentation von Kriegsverbrechen in Kramatorsk wurde sie von einer Rakete getroffen. Der Lyrikband sei auch ein Gedenken an die Opfer des Krieges, sagt Dathe.
Ein Buch, das unter die Haut geht
Das Buch „Den Krieg übersetzen“ mit Gedichten von 15 Lyrikerinnen und Lyrikern aus der Ukraine ist ein aktuelles zeitgeschichtliches und künstlerisches Dokument, das unter die Haut geht. Die Prägnanz, die reduzierte, pointierte und teilweise bruchstückhafte Sprache der Lyrik ermöglichen einen erschütternd nahen Einblick in die Erfahrungen und Gefühle derer, die diesen Krieg erleben.
Literatur aus der Ukraine
Literatur Ukraine lesen: Lebendige Szene, spannende Bücher
Seit der russische Präsident am 24. Februar einen Krieg gegen die Ukraine begonnen hat, blickt die ganze Welt dieses Land. SWR2 hat immer wieder die Literatur und Autor*innen aus der Ukraine vorgestellt.
SWR2 lesenswert Kritik Katharina Raabe, Kateryna Mishchenko (Hrg.) – Aus dem Nebel des Krieges. Die Gegenwart der Ukraine
Von der Bilderflut des Ukraine-Kriegs handelt dieser brandaktuelle Sammelband, aber auch vom Versuch, über Momentaufnahmen hinaus seine Folgen einzuordnen.
Suhrkamp Verlag, 288 Seiten, 20 Euro
ISBN 978-3-518-02982-4
Buchkritik Yevgeniy Breyger – Mitten im Krieg. Zwischen Frieden und Frieden. Eine poetische Bestandsaufnahme
Yevgeniy Breyger wohnt in Frankfurt und stammt aus Charkiw in der Ukraine. In seinem neuen Gedichtband „Frieden ohne Krieg“ spannt er den Bogen vom 2.Weltkrieg zum russischen Überfall der Gegenwart. Die Schriftstellerin Marjana Gaponenko meint: „Breygers Poesie ist in vollem Bewusstsein ihrer Verwundbarkeit. Außer ihrer unfassbaren Coolness, Aktualität und Anmut ist das eine ihrer Stärken.“
kookbooks Verlag, 80 Seiten, 24 Euro
ISBN 978-3-948336-18-9
Buchkritik Vladimir Vertlib - Zebra im Krieg
Zebra im Krieg“ erzählt vom Krieg in einer osteuropäischen Stadt, womöglich Odessa. Trotz erschreckender Parallelen ist Vladimir Vertlibs neues Werk aber kein Schlüsselroman zu Putins Ukrainekrieg, sondern eine tragikomische Kritik der Auswüchse der sozialen Medien. Vertlib zeigt, wie Hatespeech in den digitalen Echokammern zu analoger Enthemmung führt und reale Konflikte anheizt.
Rezension von Clemens Hoffmann.
Residenz Verlag, 288 Seiten, 24 Euro
ISBN 978-3-70171-752-1