Nie zuvor war man als Außenstehender in einem Krieg so nah am Geschehen wie im Krieg Russlands gegen die Ukraine. In den Sozialen Medien sieht man ukrainische Soldaten auf dem Weg zur Front, beim Essenkochen im provisorischen Bunker und beim Dauerfeuer in die versehrte Landschaft. Dank Drohnenaufnahmen kann man sogar aus wenigen Metern Entfernung mitverfolgen, wie Granaten in feindliche Linien fallen und russische Soldaten töten.
Der von Kateryna Mishchenko und Katharina Raabe herausgegebene, durch und durch lesenswerte Sammelband „Aus dem Nebel des Krieges“ stellt aktuelle Texte zum Ukrainekrieg vor, die von bitteren Nachtgedanken bis zur nüchternen Bestandsaufnahme reichen. Der Telegrammstil sich überstürzender Ereignisse steht neben essayistischer Nachdenklichkeit. Nebenbei ergibt sich eine Chronik der vergangenen Katastrophen: Butscha, Mariupol, Cherson.
Auch der ukrainische Dokumentarfilmer Yuriy Hrytsyna stellt fest, dass Kriege heute sofort viral gehen. Zum Beispiel würden ukrainische Zivilisten gleich nach Raketenangriffen auf Telegram nachsehen, was in ihrer Gegend zerstört wurde. Kurz darauf wisse man sogar, wer gestorben ist, weil die Angehörigen Fotos der Toten posten. Oft – und voller Widerwillen – gehen in diesem Buch die Gedanken zu den Angreifern. Die Kunstwissenschaftlerin Kateryna Iakovlenko denkt an die durchwühlte Wohnung einer Freundin, in der russische Soldaten einen läppischen Zettel mit dem Wort „Entschuldigung!“ hinterließen. Manchmal bekommen die Täter unvermittelt ein Gesicht, wie in Kateryna Mishchenkos Text: „In Liman stahl ein russischer Soldat eine Überwachungskamera aus einem Haus, und nach einiger Zeit sahen die Besitzer das Bild, das sie übertrug, wieder – es kam aus einer Wohnung in Burjatien.“
Mit Alissa Ganijewa kommt auch eine Russin zu Wort. Ganijewa, heute in Aserbaidschan lebend, kennt wenig Nachsicht mit ihren Landsleuten. Jahrelang hätten sie die Kriege in Tschetschenien und Syrien ignoriert, ebenso wie die Unterdrückung der Inguschen und Krimtataren. Der „kulturellen Aneignung“ der Krim hätten sie zumindest stillschweigend zugestimmt. Die wenigsten verweigern den Kriegsdienst: „Geködert werden sie mit Almosen wie einmaligen Geldsummen oder Hilfe bei der Rückzahlung von Hypotheken, aber auch hier betrügt der Staat seine Leibeigenen (...) Die „Verteidiger“ bekommen häufig nicht einmal ihren Sold ...“
Der Wunsch, Unrecht zu sühnen, treibt den Journalisten Stanislaw Assejew an. Wegen russlandkritischer Berichterstattung saß Assejew zweieinhalb Jahre in Gefängnissen der sogenannten Volksrepublik Donezk. Darunter in der Folterkammer von Isoljazija, einem ehemaligen Fabrikgelände. 2019 bei einem Gefangenenaustausch freigekommen, fand er den Aufenthaltsort des Kommandanten von Isoljazija heraus, was zu dessen Verhaftung führte. Die Aktion wurde zur Initialzündung für die Gründung des „Justice Initiative Fund“. Auf der Online-Plattform sind Geldprämien für Hinweise zur Ergreifung von russischen Kriegsverbrechern ausgesetzt.
Die deutschen Co-Autoren des Buchs versuchen sich eher an einer Einordnung des Geschehens. Die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann stellt am Beispiel der Ukraine und generell Osteuropas fest, dass der im Westen totgesagte Nationalstaat noch längst nicht tot ist. Die Literaturwissenschaftlerin Susanne Strätling spricht sich gegen eine generelle Ablehnung der russischen Kultur aus und plädiert für eine Relektüre der Klassiker unter den Vorzeichen der Dekolonisierung. Der Osteuropahistoriker Karl Schlögel wiederum ärgert sich über den „germanozentrischen Provinzialismus“ seiner Landsleute: „Moralisch darf man Großmacht sein, aber den Ukrainern Panzer zu liefern, dazu reicht es nicht.“
Suhrkamp Verlag, 288 Seiten, 20 Euro
ISBN 978-3-518-02982-4