Yevgeniy Breyger wohnt in Frankfurt und stammt aus Charkiw in der Ukraine. In seinem neuen Gedichtband „Frieden ohne Krieg“ spannt er den Bogen vom 2.Weltkrieg zum russischen Überfall der Gegenwart. Die Schriftstellerin Marjana Gaponenko meint: „Breygers Poesie ist in vollem Bewusstsein ihrer Verwundbarkeit. Außer ihrer unfassbaren Coolness, Aktualität und Anmut ist das eine ihrer Stärken.“
Dreimal lege ich Yevgeniy Breygers Gedichtband „Frieden ohne Krieg“ zur Seite, denn mir kommen jedes Mal die Tränen. Alte Tränen aus längst versiegt geglaubten Quellen. Mich triggert so gut wie jede Zeile. Wie um Himmels willen, denke ich, wie willst du über ein Buch sprechen, das dich dermaßen umhaut?
„die wahrsagerin fällt vom stuhl, und ich erkenne ihre vergangenheit. ausgeklapptes messer, stumpf wie die heimat, aber ich träum wieder, und will die alte kleidung noch einmal durchgehen.“
Wie über etwas sprechen, worüber man unbedingt sprechen möchte und wovor man doch am liebsten in Ehrfurcht verstummen will? Wie ein Werk besprechen, dessen Schönheit, Intimität und Fragilität man am liebsten hüten möchte, hüten vor den Literaturbegeisterten, die-Waffen-Nieder-Friedenstauben-Tanten, hüten vor den Kriegsmüden, Vernünftigen, Eine-Atommacht-kann-man-nicht -besiegen- Mitmenschen, mit denen man sich eigentlich sonst noch bis vor kurzen gut vertragen hat.
Hüten möchte man es aber auch vor dem journalistischen Kennerblick, der nichts anderes will als es einzuordnen, zu etikettieren, Vergleiche zu ziehen. Hüten wie eine Reliquie. Andererseits ist dieses im und durch den Krieg entstandene Buch ein wichtiges Zeitdokument, ein Beitrag zur Trauerbewältigung und muss einfach gelesen werden.
Mir persönlich schenkt es ein Gefühl für meine Zeit jenseits von Schmerz, eine Erfahrung, für die ich dem jungen, in Charkiw geborenen Dichter Yevgeniy Breyger dankbar bin. Besonders finde ich auch, dass man buchstäblich zusehen kann, wie hier auf den Seiten gekämpft wird: um eine adäquate Sprache, einen Ton, um den Atem, der dem Dichter verschlagen wurde.
„es ist ein krieg in mir, der will mich ziehn
zieht aber andere
und ich denke mich nur
denk hin“
Beim Lesen macht es dauernd Klick in meinem Kopf. Klick Klick Klick. Ich weiß nicht, was das ist, aber es tut verdammt gut. Hier, genau hier zwischen den Zeilen finde ich einen Ort, an dem jemand meine Ahnungen und Urängste aus meiner sowjetischen Kindheit benennt und bestätigt, mit sanfter Stimme dem Schrecken den Giftstachel zieht.
Ich höre dieser Stimme zu, sie schlägt einen Bogen von einem alten Krieg zu diesem, führt mich über eine einstürzende Brücke nach vorne, führt mich heraus aus dem Trauma der Ukraine, den Verbrechen der Nazis, die Stimme sagt: „Ja, ja, du hast dich damals nicht getäuscht, nicht umsonst gefürchtet, damals als Kind, zurecht geglaubt, dass sie wieder kommen würden, die Nazis mit ihren Motorrad-Gespannen, jung und zum Verlieben schön.
Jetzt heißen sie aber nicht Lutz oder Heinz, sondern viel schlimmer: Dima und Andrej, sie heißen wie wir!“ flüstert Breygers Stimme, und plötzlich schreit sie, leise, und so dass ein altes, im Wind klapperndes Tor ins Schloss fällt. Irgendwo. Für immer.
Breygers Poesie ist in vollem Bewusstsein ihrer Verwundbarkeit. Außer ihrer unfassbaren Coolness, Aktualität und Anmut ist das eine ihrer Stärken. Gleichzeitig lässt sie spüren, dass der Dichter selbst in einem Selbstermächtigungs-Prozess begriffen ist.
Es geht ihm dabei offenbar nicht um die bei den Deutschen so beliebte Frage der Identität, sondern um das Menschsein an sich. Um das Mensch-bleiben in einer dunklen Zeit, es geht um das Kunststück, nicht abzustumpfen - im Angesicht einer Barbarei und einer auseinanderbrechenden Weltordnung. Menschlichkeit. Nicht abstumpfen.
„Angerona zeigt mir das Photo aus Izjum mit dem verbrannten Arm, immer noch wird mir schlecht, ich stumpfe also zum Glück nicht ab.“
Der aus drei Teilen bestehende Gedichtband ist keine leichte Lektüre, dennoch liest er sich wie im Rausch. Im ersten Teil lernt man Yevgeniy Breyger als Zeitgenossen kennen und mögen, seinen umgangssprachlichen Tagebuchsound, mit dem er über seine jüdischen Vorfahren in der Ukraine erzählt, über jene die 1941 das Massaker von Babyn Jar überlebten und über jene die jetzt vor russischen Bomben aus Charkiw geflohen sind.
Man hört viel Liebe, viel Zärtlichkeit heraus – für die Lebenden und Toten, für seine verstorbene Großmutter, mit deren Geist Breyger, getrennt durch Zeit und Raum und das Glas einer Fensterscheibe irgendwo in Deutschland Zug fährt. Eine Szene, die ich zitieren möchte:
„horizont, geschnitten von der vertikale eines fallenden engels, getiergleich, mit antlitz das pupillen sprengt und stinkt so fürchterlich nach phosphor, plutonium, kinderknochen, dass mir ganz hell wird im hirn und ich einmal mehr ZURÜCKdenken muss an meine großmutter, stellvertreterin reinen geists, reiner empfindung und das fensterbrett an dem sie sitzt, leuchtet plötzlich viel mehr blitzt es, schnellt, ich verpasse es fast, bemerke aber doch die güte
nachsicht eingeborener/vorgezogener verwandschaft
großmama
und ein reich zerfällt, meine hand in ihrer, füchschen, und aus dem alten erwächst neues, wird alt, hab keine sorge.“
Faszinierend finde ich die Wirkung von den russischen Einsprengseln, die eingebettet in die englischen und deutschen Verse im Abschlusskapitel des Buches zu finden sind. Auf jemanden wie mich, der seit der russischen Invasion mit seiner Muttersprache hadert, wirken Breygers russische Zeilen extrem therapeutisch, wie heilsamer Strom fast.
Hier verliert die russische Sprache, diese verrückt gewordene Verwandte, das Komödiantische aber auch das Furchterregende. Man kann sich ihr nun annähern, bei ihr stehen, sich an das Gute erinnern, was uns beide verbindet. Und wieder mag ich am liebsten schweigen, schweigen und weinen. Es ist eine Katastrophe passiert. Davon zeugen diese Texte. Yevgeniy Breyger, Frieden ohne Krieg.
„Когда голос отказывает, тело начинает шествие внутрь, умное, как ружьё, невинное как рано простувшаяся чёрная пчела.“ (wenn die Stimme versagt, tritt der Körper seine Wanderung innenwärts an, klug wie ein Gewehr, unschuldig wie eine zu früh erwachte schwarze Biene.)