Ronya Othmann wurde 1993 in München als Tochter einer deutschen Mutter und eines kurdisch-ezidischen Vaters geboren. „Vor 2014“, so schreibt Othmann, „kennt man die Eziden in Deutschland nicht. Wenn ich gefragt werde, sage ich: Wir sind Kurden aus Syrien.“ Das änderte sich schlagartig, denn im August 2014 beginnt die Terrormiliz Islamischer Staat den Völkermord an den Eziden in der nordirakischen Region Shingal. Die Eziden verweigern sich gegen die Bekehrung zum Islam; sie gelten den Terroristen als Ungläubige.
Ronya Othmann hat bei den Klagenfurter Tagen der deutschsprachigen Literatur im Jahr 2019 einen Auszug aus ihrem nun erschienenen Buch vorgelesen und damit Verstörung hervorgerufen. Nicht zuletzt darum, weil es Juroren gab, die sich aufgrund des Stoffes nicht in der Lage fühlten, die literarische Qualität des Textes zu beurteilen.
Nun ist das Buch fertig, rund 500 Seiten stark, und es beginnt mit jener Szene, in der die Ich-Erzählerin im August 2014 vor dem Fernseher in Deutschland sitzt und zusehen muss, wie Menschen um ihr Leben rennen, verdursten, auf Sklavenmärkten verkauft werden. Menschen, die die Kleider und Namen ihrer Onkel, ihres Vaters, ihrer Großeltern tragen.
„Vierundsiebzig“ ist ein Hybrid aus unterschiedlichen Gattungen: Othmann reist in die Region, trifft Verwandte, besucht Camps, lässt sich von Augenzeugen berichten. Aber zugleich ist das Buch auch ein Versuch, überhaupt eine Sprache zu finden für das Unaussprechliche. Und Ursachen zu finden, sich zu fragen, wie es überhaupt zu alldem kommen konnte.