- Elias Canetti: Die Blendung
- Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften
- Monika Helfer: Vati
- Jorge Luis Borges: Bibliothek von Babel
Die Ordnung der Bibliotheken
Bibliotheken sind eine Utopie des Wissens. Alles, was schon einmal geschrieben wurde, an einem Ort zu versammeln, das wär's. Denn während die Welt bunt, anarchisch, vielfältig ist, sind Bibliotheken immer schon geordnet. Nur darum vermitteln sie überhaupt das Versprechen, alle Erkenntnisse bündeln zu können.
Aber Bibliotheken wissen immer mehr als wir selbst, denn keiner kann alle Bücher kennen. Darum müssen sie geordnet werden, aber nach welchen Kriterien? Nach Themen, nach Jahrgängen, nach Autoren oder Autorinnen? Es kann es nur eines geben. Darum hat man Kataloge erfunden, um die vielen Zugangsvarianten zu sortieren. Anders gesagt sind Kataloge Ordnungen zweiten Grades. Und das kann bis ins Unendliche gehen.
Mehr als Bücher: Ein Plädoyer für die Bibliothek Drei Gründe, warum wir Bibliotheken auch in Zukunft brauchen
Wer braucht schon meterlange, staubige Bücherregale, wenn es doch im Internet Informationen per Mausklick gibt? Wir alle! Denn Bibliotheken haben mittlerweile viel mehr zu bieten.
Brand und Zerstörung
Bibliotheken neigen dazu, keinen Abschluss zu finden, immer kommt noch ein Buch hinzu. Und noch eines, noch eines und so weiter. Paradoxerweise bergen sie darum den Keim der Zerstörung in sich. Nicht von ungefähr lebt der Mythos bis heute, dass die berühmteste aller Bibliotheken, die Bibliothek von Alexandria, durch einen Brand zerstört wurde. Aber genau das macht sie auch zur perfekten Projektionsfläche.
Eine Bibliothek der Welt – Davide Ferrarios Dokumentarfilm über Umberto Ecos Privatbibliothek
In ihr vereinigt sich die Utopie, das ganze Weltwissen vollständig in sich versammelt zu haben, für einen kurzen historischen Augenblick, bevor es in Flammen aufging. Die Verbindung Brand und Bibliothek hat darum viele Dichter fasziniert, nicht erst Umberto Eco im Roman „Der Name der Rose“. Aber der wahre Feind der Bibliothek ist das nächste Buch, das gerade geschrieben wird.
Trotzdem: Viele Autoren und Autorinnen haben sich mit dem mystischen Ort Bibliothek literarisch auseinander gesetzt. SWR Kultur Literaturchef Frank Hertweck hat vier Beispiele für Romane gesammelt, in denen die Bibliothek im Mittelpunkt steht.
Welt im Kopf – Elias Canetti: Die Blendung
1936 erschien ein Roman, der anders klang als alles, was man bisher gelesen hatte: „Die Blendung“ des späteren Literaturnobelpreisträgers Elias Canetti. Er versammelte nicht eigentlich Personen, sondern Wahnvorstellungen, denn keiner spricht mit dem anderen, alle sind in ihren eigenen Gedanken gefangen.
Die Hauptfigur heißt Herr Doktor Peter Kien, doch zuerst wollte Canetti ihn Kant nennen. Er ist Sinologe, der größte lebende Sinologe, wie er sagt. Und er lebt in einer Bibliothek, in einer Welt aus 25.000 Büchern. Darum heißt der erste Teil des Romans „Kopf ohne Welt“. Oder anders: die Bücher sind die Welt. Und genauso werden sie von Kien behandelt, für ihn sind sie lebendige Wesen, sie kämpfen gegeneinander, sie führen Krieg, sie versöhnen sich.
SWR Literaturchef Frank Hertweck zum Literaturnobelpreis: Rushdie nicht vergessen
Aber diese Isolation kann nicht gut gehen und geht auch nicht gut. Die wirkliche Welt bricht in die imaginäre ein, weil es der Haushälterin Therese gelingt, den Gelehrten zu überlisten, ja schließlich zu heiraten. Die Ehehölle nimmt ihren Lauf. Und am Ende bleibt dem Bibliotheksbewohner nur eine Rettung, das Feuer. „Die Blendung“ heißt der Roman auf deutsch. Im Englischen lautet sein Titel „Auto-da-Fé“, ein Richtspruch, in diesem Fall: die Bücherverbrennung.
Bibliothekare lesen nicht – Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften
Robert Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“ gehört zu den Achttausendern der Weltliteratur. Anfang der 1930er Jahre erschienen die ersten Bände, aber das Werk wurde nie vollendet. Es ist ein extrem schlauer Roman, der gleichzeitig zeigt, dass Musil schlau ist. Nicht Handlungen sind sein eigentliches Material, sondern Gedanken.
Sein Held heißt Ulrich, er ist der titelgebende Mann ohne Eigenschaften, aber eigentlich ist er ein Antiheld, ein Prokrastinierer. Er wird Sekretär der sogenannten Parallelaktion, der Planung des 70-jährigen Thronjubiläums des Habsburger Kaiser Franz Joseph I im Jahr 1918, um den deutschen Kaiser Wilhelm I mit seinen dreißig Jährchen Thron in die Schranken zu weisen. Wir wissen, wie die Sache ausging.
Und weil Robert Musil eine Ausbildung zum Bibliothekar genossen hat, gibt es ein Kapitel, das den wunderbaren Titel trägt: „General Stumm dringt in die Staatsbibliothek ein und sammelt Erfahrungen über Bibliothekare, Bibliotheksdiener und geistige Ordnung“. Stumms Ziel ist es, den bedeutendsten Gedanken der Welt zu finden. Aber diesen Superlativ gibt es natürlich nicht in diesem, wie er es nennt: „Tollhaus von Büchern“, doch dafür den, dass Bibliothekare gar keine Bücher lesen, sondern nur Titel. „Wer sich auf den Inhalt einläßt, ist als Bibliothekar verloren.“
Der Bücherdieb – Monika Helfer: Vati
Österreicher scheinen ein besonderes Faible für die Bibliothek zu haben. So auch Monika Helfer. Sie hat in mehreren brillanten Romanen die Geschichte ihrer Außenseiterfamilie beschrieben und dabei auch die Geschichte ihres Vaters in „Vati“. Ihn verbindet eine besondere Liebe zu Büchern, ja fast könnte man sagen, er liebt seine Bücher mehr als seine Familie. Einmal sagt die Tochter: „Dass unser Vater in seiner Büchersucht rücksichtslos sein konnte, das wusste ich allerdings. Asozial.“
Nach dem zweiten Weltkrieg wird er, selbst kriegsversehrt, Leiter eines Kriegsopfererholungsheims. Und weil der dem Sohn eines Tübinger Professors aufopfernd hilft, indem er ihm vorliest und vorliest, erbt das Heim einen bestimmten Teil der Professorenbibliothek. Keine Unterhaltungslektüre, wie man bei den potenziellen Lesern vermuten könnte, sondern zum Beispiel Kant, Fichte, Darwin, Platon.
Keines der Bücher wurde jemals ausgeliehen. Darum halten die neuen Betreiber die Bibliothek für unnütz und platzraubend. Der Vater beginnt seinen Schatz beiseitezuschaffen...
Die unendliche Bibliothek – Jorge Luis Borges: Bibliothek von Babel
Dass Bibliotheken den Drang ins Unendliche in sich tragen, hat niemand radikaler beschrieben als der große argentinische Dichter Jorge Luis Borges. Borges war ab 1955 Direktor der argentinischen Nationalbibliothek, doch zu dieser Zeit fast schon erblindet. 1941 veröffentlichte er eine kurze Erzählung, die es in sich hat: „Die Bibliothek von Babel“.
Sie beschreibt ein Universum der Bücher, eine nahezu unendliche Sammlung von Texten, in denen sich alle möglichen Kombinationen von 22 Buchstaben, Komma, Punkt und Leerzeichen finden, ob sinnvoll oder sinnlos, das ist gleich. Aber wissen wir denn immer, wo da die Grenze genau liegt? Steckt in manchem Buchstabenchaos nicht doch eine Ordnung?
Es sind wir Leser und Leserinnen, die genau das antreibt, die Suche nach dem Sinn, denn nichts anderes bedeutet Lesen. Aber am Ende stehen wir genauso ratlos vor der gewaltigen Bibliothek, wie wir vor der Welt stehen, staunend, keine Ordnung nirgends.