Abseits der überhitzen Debatten will der Philosoph Julian Nida-Rümelin eine tiefergehende Analyse der sogenannten Cancel-Culture bieten – und dabei helfen, diese Praktiken des Zum-Schweigen-Bringens unerwünschter Meinungen und ihre Auswirkungen besser zu verstehen.
Canceln: ein Phänomen der Kulturgeschichte
Zunächst erläutert der Autor einige philosophischen Grundannahmen zur Cancel-Culture: Denn die großen Denker, von Platon und Aristoteles über Thomas Hobbes bis René Descartes befassten sich damit, welche Rolle Kritik und offener Meinungsaustausch für Gesellschaften spielen.
Das zeigt, dass Canceln ein uraltes Phänomen unserer Kulturgeschichte ist. Es kann extreme Formen annehmen, wie im Falle Galileo Galileis, dessen Erkenntnisse zur Astronomie auf radikalste Art unterdrückt wurden. Interessant sind zudem die unbekannteren Beispiele aus der jüngeren Geschichte. Zum Beispiel der arco costituzionale in Italien, der Verfassungsbogen, der nach dem Zweiten Weltkrieg faschistische Kräfte von rechts ebenso ausschloss wie antidemokratische von links.
Nida-Rümelin befasst sich vor allem mit historischen Entwicklungen und beleuchtet das Canceln aus erkenntnis- und demokratietheoretischer Perspektive. Dabei lässt er aktuelle Skandale wie den um Winnetou oder um den Schlager-Song Layla außen vor. Dieser nüchtern-analytische Blick ist – trotz wenigen zugespitzt formulierten Passagen, die aber nicht polemisch wirken – eine wohltuende Abwechslung in der oft emotional aufgeladenen Debatte.
Gefahr für die demokratische Praxis?
Trotzdem bezieht der stellvertretende Vorsitzende des deutschen Ethikrats Position. „Canceln" ist für ihn keine Lösung, im Gegenteil, er sieht die Demokratie durch eine enthemmte „Cancel Culture“ in Gefahr, denn eine - so schreibt Nida-Rümelin - „Demokratie, die lediglich gelenkte und formatierte Informationen zulässt, verletzt das Recht auf Selbstbestimmung und gefährdet die epistemischen Grundlagen demokratischer Praxis.“. Er zeigt sich überzeugt, dass der offene, angstfreie Austausch von Argumenten die Basis jeden Erkenntnisgewinns ist.
Es zeichne die Demokratie aus, dass Argumente ausgetauscht und Einwände berücksichtigt werden. Sie muss unerwünschte Meinungen ertragen, Widersprüche aushalten und Konflikte austragen, anstatt sie zu unterbinden. Das nämlich birgt eine Gefahr für die Demokratie, etwa weil es den Populismus stärken kann: Menschen, die sich ohnehin bevormundet fühlen, sehen sich durch das Canceln bestätigt und wenden sich denjenigen zu, die ihrer Wut – vermeintlich oder tatsächlich – eine Stimme verleihen.
Dialog und Vernunftgebrauch statt Verbot
Zugleich ist dem Autor bewusst, dass bei aller Forderung nach Toleranz und Offenheit ein legitimes Interesse daran bestehen kann, bestimmte Überzeugungen zum Schweigen zu bringen. Sie sollten aber durch Dialog und Vernunftgebrauch entkräftet und nicht von vornherein unterdrückt werden. Dazu braucht es laut Nida-Rümelin eine gute Debattenkultur, für die einige Voraussetzungen erfüllt sein müssen: Die Wissenschaft muss relevante Erkenntnisse gut verständlich formuliert in den öffentlichen Diskurs einspeisen. Die Politik soll transparent sein und ihr Handeln tatsachenorientiert begründen. Die Gesellschaft soll geltende Normen immer wieder neu ergründen und sich um einen offenen Austausch bemühen.
Voraussetzung dafür ist, dass der Mensch seine Urteilsfähigkeit einsetzt und vernunftorientiert entscheidet. Dies ist der Grundpfeiler der Debattenkultur, die Nida-Rümelin als Problemlösung vorstellt. Jedoch liegt dem eine sehr optimistische Einschätzung des menschlichen Wesens zugrunde. Was, wenn der Mensch nicht so einsichtsfähig und vernunftbegabt ist, wie sich der Autor das vorstellt?
„Cancel Culture – Das Ende der Aufklärung?“ ist dennoch ein wertvoller und lesenswerter Beitrag zur Debatte und eine gute Anregung, sie sachlicher, lösungsorientierter und damit zielführend zu gestalten. Wie praxistauglich die Ideen sind, bleibt jedoch fraglich – vermutlich müssten sie weitergedacht und um einige klare Grundregeln und Sanktionsmöglichkeiten ergänzt werden.