Ex-Athletin Janine Berger über die Missstände im deutschen Turnen
Mein Wunsch wäre, dass kein Kind mehr das durchleben muss, was wir als Turnerinnen durchlebt haben und dass der Turnsport wieder zu einem sicheren Ort wird, wo man mit Freude und Disziplin trainieren kann. Weil: Dieser Sport ist wunderschön, ich liebe ihn über alles.
Was geschah in den DTB Stützpunkten Stuttgart und Mannheim?
Ende 2024 hatten zahlreiche Turnerinnen Missstände öffentlich gemacht. Im Fokus: der Stuttgarter Bundesstützpunkt des Deutschen Turner-Bundes. Die Rede war von systematischem körperlichem und mentalem Missbrauch. Mittlerweile sind Vorwürfe gegen den Turn-Standort Mannheim dazugekommen. Die ehemalige Kunstturnerin Janine Berger kritisiert in SWR1 Leute, dass viel zu lange nichts passiert sei und bezeichnet das als Systemproblem, das man unabhängig von der Standortfrage untersuchen müsse.
Schon zu meiner Zeit, 2013/2014, wurden unzählige Gespräche geführt. Es wurde nie wahrgenommen, es wurde eher geraten, nichts zu sagen. Man weiß: Als aktive Turnerin ist es extrem schwer, weil wenn man was sagt, ist man weg – egal, ob die Leistung da ist oder nicht. Das ist für viele schwierig, was ich auch verstehen kann: Man arbeitet Jahre für diesen einen Wettkampf, zum Beispiel die Olympischen Spiele. Da überlegt man sich zweimal, ob man überhaupt was sagt – wenn man weg ist, dann zerplatzt dieser Traum.
Ess-Störungen und Depressionen sollen ignoriert worden sein
Erniedrigungen und Manipulation sollen in Stuttgart alltäglich gewesen sein. Es wurden in diesem Zusammenhang Sätze zitiert wie: "Wenn ich dich sehe, dann muss ich kotzen, obwohl du kotzen solltest."
Man kommt ja in dieses System relativ jung, mit 5, 6 Jahren. Man denkt, alles sei normal. Man ist mit den Trainern 24/7 zusammen, teils deutlich mehr als mit den Eltern. [...] Irgendwann merkt man dann schon: Es passt was nicht ganz. Ich bin dann ja auch in eine Ess-Störung gerutscht, die jahrelang bei meinen Eltern unentdeckt blieb, obwohl die Trainer Bescheid wussten. Das lag auf dem Tisch, dass ich eine Ess-Störung hatte, es war aber tatsächlich einfach egal.
Verpasste Olympia-Medaille: traumatisches Erlebnis für Janine Berger
Größter Rückschlag für Janine Berger: ihr vierter Platz bei den Olympischen Spielen 2012. Den empfindet sie nicht als Erfolg, sondern "wegen eines Kampfrichter-Fehlers als eine verpasste Medaille und einen absoluten Schlag ins Gesicht".
Dieser vierte Platz hat mich komplett geprägt. Ich habe mich komplett als Versager gefühlt, weil ja dann noch vom Verband und den Trainern Gegenwind kam, so nach dem Motto 'ich hätte die Medaille ja nur aufgrund meines Gewichtes verloren'. Das mit 16 Jahren zu verarbeiten: Da hätte ich damals schon professionelle Unterstützung seitens des Verbandes gebraucht, um damit umgehen zu können.
Diese Unterstützung sei erst dann gekommen, als sie bereits in die Ess-Störung und eine Depression abgerutscht gewesen sei, sagt Janine Berger.
Übergriffige Trainer und Turn-Funktionäre, die wegschauen?
Es gibt eine harte Grenze zwischen Machtmissbrauch und hartem Training. [...] In gewisser Weise ist Spitzensport nie gesund, das braucht man gar nicht leugnen. Psychisch hab' ich jahrelang gekämpft, dass ich wieder gesund werde. Ich bin nach wie vor in Therapie. Was ich mich heute frage: Warum wurde jahrelang GEGEN uns gearbeitet als Athlethen und nicht MIT uns zusammen?
Die Reaktionen auf die Veröffentlichungen von Janine Berger: "zu 95 Prozent positiv", es gebe viel Zuspruch. Darunter von viele Turnerinnen – selbst von heute 50-Jährigen, die beschreiben, wie viel sie verdrängt hätten, das erst jetzt wieder hoch komme. Den "5 Prozent Kritik", dass ihre Veröffentlichungen den Sport kaputt machten, widerspricht Berger:
Das ist ja wieder Täter-Opfer-Umkehr. Bloß, weil wir auf Missstände aufmerksam machen, heißt das ja nicht, dass wir den Sport kaputt machen. Dafür haben die Verantwortlichen schon ganz schön selber gesorgt.
Forderung nach Aufklärung beim DTB: Extern und unabhängig
Dass sich der Verband bei ihr mittlerweile entschuldigt habe, mit der Bitte um ein internes Gespräch, bezeichnet Berger als, so wörtlich, "Witz". Interne Gespräche habe es schon seit Jahrzehnten gegeben, jetzt müsse von außerhalb und unabhängig aufgeklärt werden - und das schließe auch die Politik und deren Sportförderung mit ein.
Nicht dass, sondern in welcher Art und Weise diese Vorfälle und Vorwürfe jetzt vom DTB aufgearbeitet werden sollen, stößt auf deutliche Kritik von Janine Berger. Der DTB habe eine Anwaltskanzlei mit der Aufarbeitung beaufragt, die, so Berger, bereits schon einmal Missbrauchsvorwürfe - damals in Chemnitz – untersucht habe und wegen der Durchführung massiv in der Kritik gestanden sei.
Jetzt dürfen sie [der Verband] selbst entscheiden, wer sie untersucht – allein das ist schon fragwürdig. [...] In meinen Augen, um hier wirklich Veränderungen im deutschen Turnen zu erzielen, braucht's ganz klar auch personelle Veränderungen. [...] Wir waren Schutzbefohlene, minderjährige Turnerinnen, die in Obhut gegeben worden sind. Die Eltern bringen ein extremes Vertrauen [...] auf. Das dann so massiv zu missbrauchen und dann auch die Eltern mit zu manipulieren, ist in meinen Augen einfach nicht tragbar.